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Coronavirus: Die ersten Schritte auf dem langen Weg zurück in die Normalität

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

Die Geschäfte haben wieder geöffnet, für einige Schüler beginnt am Montag der Unterricht im Klassenraum. Die Lockerungen der Corona-Maßnahmen werden von vielen Menschen als befreiend empfunden. Warum die Gefahr besteht, dass die ersten Erfolge im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, erklärt Dr. Svenja Kräling, leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina.

© Mike Petrucci via Unsplash

Die Ungewissheit, wann die Einschränkungen wenigstens zum Teil wieder   zurückgenommen werden, haben viele Menschen als belastend empfunden. Wie wichtig war es, dass nun die ersten Corona-Maßnahmen wieder gelockert worden sind? 

Kräling: Für viele Menschen stellt es eine deutliche Erleichterung dar, wieder „mehr Alltag“ leben zu können. Auch wenn das weiterhin bestehende Kontaktverbot und die ab Montag geltende Maskenpflicht klare Hinweise darauf sind, dass wir noch lange nicht in der Normalität angekommen sind. Die Lockerungen sind aber auf alle Fälle ein spürbares Signal für die Bevölkerung, dass sich etwas bewegt. Aus verhaltenstherapeutischer Sicht war es wichtig, durch mehr Freiheiten die Bürger darin zu bestätigen, dass die bisherigen Einschränkungen wirksam waren und dass wir auf dem richtigen Weg sind.

Und doch sind einige enttäuscht, dass vieles verboten bleibt. Wie ist dies zu erklären? Wird vielen Menschen jetzt erst klar, dass es die schnelle „Rückkehr zur Normalität“ auf absehbare Zeit nicht geben wird?

Kräling: Mit den lange herbeigesehnten Lockerungen verbunden ist natürlich die Sehnsucht der Menschen, dass endlich wieder „alles normal“ wird. Das notwendige kleinschrittige Vorgehen der Regierung fordert ein hohes Maß an Geduld und Frustrationstoleranz von uns. Für viele wird auf emotionaler Ebene erst jetzt deutlich spürbar, dass bisher lediglich der Startschuss zu einem Marathon verklungen ist. Die erste Euphorie über mehr Freiheiten verklingt leider schnell angesichts des langen Weges, der noch zu bewältigen ist.

Die Einzelhändler dürfen wieder öffnen, die Fußgängerzonen werden sich allmählich wieder füllen. Sehen Sie die Gefahr, dass die Menschen schnell nachlässig werden?

Kräling: Ja, den sogenannte „rebound“-Effekt kennen wir aus vielen Lebensbereichen, wie zum Beispiel nach dem Ende einer Diät: wenn Einschränkungen endlich wieder gelockert werden, möchte man das Versäumte nachholen und sich vielleicht auch etwas extra gönnen – mit der Gefahr es zu übertreiben und das Erreichte zu gefährden. Im Fall der Corona-Krisen könnte dieses Muster zu einem Problem werden, weil es viele Menschen gleichzeitig betrifft. Der Wunsch nach einer Rückkehr in das gewohnte Leben vor Corona ist bei vielen so groß, dass durch verschiedene psychologische Mechanismen Gedanken an eine anhaltende Gefährdung unterdrückt oder vermieden werden.

Nach wie vor gilt das Kontaktverbot: Wie gelingt es, einerseits das Stückchen zurückgewonnene Freiheit zu genießen, andererseits kein größeres Infektionsrisiko einzugehen?

Kräling: Die wichtigsten Lockerungen betreffen ja die Möglichkeit, nun wieder umfassender einkaufen zu gehen und auch die Perspektive der schrittweisen Schulöffnungen gibt vielen Eltern sicherlich Hoffnung. Jeder von uns sollte versuchen, trotzdem besonnen zu bleiben und sich im nachvollziehbaren Drang, „volle Fahrt voraus“ in den alten Alltag zu starten, zu bremsen. Achtsamkeit sowie ein bewusster Umgang mit sich und anderen bleiben weiter eine wichtige Richtlinie. Überlegen Sie sich weiter, ob Sie wirklich shoppen gehen müssen, oder ob dies nur als Freizeitbeschäftigung dient, für die es Alternativen gibt.

Vor allem in Bus und Bahn oder beim Einkauf ist das Tragen von Mund-Nasen-Schutz Pflicht. Warum wirken maskierte Menschen auf uns befremdlich?

Kräling: In asiatischen Kulturen gehört das Tragen von Masken aus Respekt und Rücksicht auf die Mitmenschen zum guten Benehmen. Menschen mit Nasen-Mund-Schutz auf der Straße zu sehen gehört zum normalen Alltag in den dortigen Großstädten. Bei uns in Europa war dies bisher nicht üblich, wir verbinden das Tragen von Masken eher mit schweren Erkrankungen wie zum Beispiel bei Krankenhauspatienten. Daher fürchten viele als corona-krank stigmatisiert zu werden oder schämen sich einfach, mit Maske aufzufallen. Das wird sich aber ändern, sobald eine „kritische Masse“ maskentragender Mitmenschen zur Normalität werden. Denn normal ist, was häufig ist.

Für einige Jahrgangsstufen beginnt wieder die Schule, in vielen Firmen wird die Kurzarbeit aufgehoben. Wie gelingt die Rückkehr in den gewohnten Rhythmus?

Kräling: Wenn die Rückkehr bedeutet, dass man in den alt bekannten Rhythmus zurückkehrt, dann ist dies meist problemlos möglich. Sowohl unsere Psyche als auch unser Körper haben ein starkes prozedurales Gedächtnis: Handlungsabläufe, die einmal routiniert waren, können auch nach längerer Pause schnell wieder umgesetzt werden. Das ist wie Fahrrad fahren oder ein Musikinstrument spielen – das verlernt man nicht so schnell. Für viele bedeutet der Wiedereinstieg in Arbeit und Schule aber auch eine Umstellung. In diesem Fall sollte man geduldig und nachsichtig mit sich und den Kindern umgehen, dass es vielleicht etwas dauert, bis man sich in der „neuen Normalität“ eingelebt hat.

Zur Person: Dr. Svenja Kräling

Dr. Svenja Kräling (38) ist leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina. Ihr Studium und die nachfolgenden Weiterbildungen zur Psychologischen Psychotherapeutin und Supervisorin (VT) hat sie in Marburg und Bad Dürkheim absolviert. Seit 2009 ist sie in der Hainaer Klinik therapeutisch tätig.

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