Jennifer F., 28 Jahre alt, konsumiert Drogen, seit sie zwölf ist. Alkohol, Marihuana, später auch Tabletten und Heroin. Sie hat einen Sohn, der in einer Pflegefamilie lebt, und steckte in vielen gewalttätigen Beziehungen. Zu ihren Eltern und Geschwistern gibt es nur noch wenig Kontakt. Um ihre Abhängigkeit zu finanzieren, hat sie sich prostituiert und bis zu ihrer Verhaftung zahlreiche Diebstähle begangen.
Jennifer F.s Lebenslauf ist frei erfunden, aber so oder so ähnlich steht er in vielen Akten der Patientinnen, die zu Straftäterinnen werden und dann in der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar behandelt werden. Frauen machen im Maßregelvollzug nur einen sehr geringen Anteil aus – gerade einmal fünf Prozent der dort Untergebrachten sind weiblich.
Für sie ist in Hadamar 2002 die sogenannte Frauenstation eröffnet worden. Dieser damals neue Ansatz trägt unter anderem der Minderheitenposition der Patientinnen Rechnung. Die Therapie berücksichtigt auch, dass sich Suchterkrankungen bei Männern und Frauen oft stark voneinander unterscheiden. Frauen sind häufig anders sozialisiert als Männer und haben andere Erfahrungen gemacht, die sich auf ihr Suchtverhalten auswirken.
Vor diesem Hintergrund gibt die Hadamarer Frauenfachtagung Gelegenheit, sich zwei Tage lang über die Behandlung suchtkranker Straftäterinnen auszutauschen und sich über neue Therapieansätze zu informieren. Nachdem die Corona-Pandemie zwei Anläufe gestoppt hatte, konnten die Organisatorinnen und Organisatoren nun wieder knapp 200 Gäste aus der ganzen Bundesrepublik auf dem Mönchberg zur inzwischen neunten Frauenfachtagung begrüßen.
„Alle Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer verbindet das Wissen, dass suchtkranke Frauen, die straffällig geworden sind, andere Rahmenbedingungen brauchen als Männer“, betonte die neue Landesdirektorin des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Susanne Simmler, in ihrem Grußwort. Burkhard Blienert, Sucht- und Drogenbeauftragter der Bundesregierung, formulierte es in seinem Gruß ähnlich: „Der Blick auf die individuellen Lebenssituationen und -wirklichkeiten darf nicht fehlen, nur weil sie eine vergleichsweise kleine Gruppe sind. Gerade sie brauchen eine Lobby.“
„Es lohnt sich, hinzusehen und Frauen nicht nur als Täterinnen, sondern auch als Frauen und Mütter zu sehen. Genau das tun wir hier“, erklärte Marina Zahn, die für die verhinderte Staatssekretärin Dr. Sonja Optendrenk nach Hadamar gekommen war. „Das Ministerium unterstützt ausdrücklich den frauenspezifischen Therapieansatz, wie er hier praktiziert wird.“
Martin Engelhardt, Sprecher der Geschäftsführung von Vitos Weil-Lahn und Vitos Herborn, ist es sehr wichtig, den Mitarbeitenden regelmäßig eine Möglichkeit zu bieten, aktuelle Themen des Maßregelvollzugs auch mit externen Experten zu besprechen. „Diese Veranstaltung lebt vom fachlichen und vom kollegialen Austausch“, so Engelhardt.
„Ich weiß, welch wertvoller Beitrag zur erfolgreichen Wiedereingliederung in die Gesellschaft hier geleistet wird“, lobte Hadamars Bürgermeister Michael Ruoff den größten Arbeitgeber in der Fürstenstadt. Klinikchefin Sandra Manegold lenkte den Blick auf die vielen kleinen Details der Frauenfachtagung. „Mein Dank gilt neben den Organisatorinnen und Organisatoren aus der Klinik auch den Patientinnen und Patentinnen, die im Vorfeld daran mitgearbeitet haben“, sagte die Ärztliche Direktorin der Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Hadamar. „Darum machen wir das hier. Jede und jeder kann mit der richtigen Motivation den Schritt zurück ins Leben schaffen.“
Mit viel Engagement und Herzblut hatte das Team um Karin Türk, psychologische Psychotherapeutin und Abteilungsleiterin der Frauenstation, das Programm und die Details organisiert, die das besondere Flair der Veranstaltung ausmachen. In thematisch aufeinander bezogenen Vorträgen sprachen jeweils externe Referent/-innen und Mitarbeitende aus der eigenen Klinik unter anderem über Patientinnen zwischen Täter- und Opferrolle, über Risikoeinschätzungen, Mutter-Kind-Arbeit, über die forensische Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, über Resilienzförderung und Traumapädagogik.
Auf dem „Basar der Möglichkeiten“ konnten sich die Teilnehmer/-innen darüber informieren, wie sich die Arbeit auf der Hadamarer Frauenstation in den vergangenen zwei Jahrzehnten verändert hat und welche neuen Therapieansätze das Team verfolgt. Im Festsaal hatte die Ergotherapie mit den Patientinnen eindrucksvoll verschiedene „Alltagssüchte“ ausgestellt. Dort wurde deutlich: Sucht zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und umfasst viel mehr als nur „harte Drogen“. Auch Alkohol, Nikotin, Süßigkeiten, Fastfood, freiverkäufliche Medikamente wie Nasenspray und Schmerztabletten, aber auch der Wunsch nach einem perfekten Körper können abhängig machen.