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Coronavirus: Kindern Halt geben ist wichtiger als schulischer Erfolg

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

Der zweite Lockdown, verschärfte Kontaktbeschränkungen, erneute Aufhebung der Präsenzpflicht in den Schulen: die Corona-Pandemie führt in vielen Familien zum Ausnahmezustand. Das fordert Eltern und Kinder gleichermaßen. Wie diese schwierige Zeit gut durchzustehen ist, erläutert Dr. Svenja Kräling im Interview. Sie ist leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina.

© Jessica Lewis via Unsplash
Der zweite Lockdown, verschärfte Kontaktbeschränkungen, erneute Aufhebung der Präsenzpflicht in den Schulen: die Corona-Pandemie führt in vielen Familien zum Ausnahmezustand.

Seit dieser Woche ist für die meisten Kinder und Jugendlichen wieder Homeschooling angesagt. Worauf sollten Eltern dabei achten?

Kräling: Viele Familien haben im ersten Lockdown schon vielfältige Erfahrungen im Homeschooling gesammelt - gute wie schlechte. Diese sollten wir jetzt nutzen, um uns selbst und unseren Kindern nicht mit überhöhten Erwartungen unnötigen zusätzlichen Stress zu machen. Die aktuelle Situation verlangt uns ohnehin schon genug ab. Teilen Sie sich daher Ihre Kräfte gut ein und seien Sie geduldig mit sich und den Kindern.

Vor allem jüngeren Kindern fällt das eigenständige Lernen häufig schwer. Wie kann man sie dabei unterstützen?

Kräling: Unsere Kinder leisten aktuell gerade Großartiges. Häufig übersehen wir, welche außerordentliche Anpassungsleistung sie vollbringen müssen, um sich in dieser ständig verändernden Lebenssituation emotional, sozial und intellektuell zurecht zu finden. Daher sollten wir, wenn wir an Unterstützung denken, neben der schulischen Förderung auch die psychische Stabilität im Blick haben. Fragen Sie wie es Ihrem Kind geht, was es braucht und wo Sie helfen können. Auch jüngere Kinder wissen meist gut, was sie alleine können und wo sie Hilfe brauchen.

Andererseits fördert der Distanzunterricht die Eigenständigkeit. Ist dieser Situation nicht eigentlich viel Gutes abzugewinnen?

Kräling: So verändert die aktuellen Lernbedingungen auch sind, es bieten sich auch neue Chancen für uns und die Kinder hinsichtlich der Entwicklung von Selbständigkeit. Ohne den Lehrer als ständig erreichbaren Ansprechpartner ist es notwendig, dass die Schüler lernen, sich gut zu organisieren. Die vermehrte Nutzung digitaler Medien macht uns alle zudem zwangsläufig offener für neue Erfahrungen. Dennoch ist auch der soziale Austausch wichtig. Wann immer möglich fände ich daher die Anreicherung des Distanzunterrichts zum Beispiel mit Videokonferenzen ideal.

In vielen Klassen wird mit Wochenplänen gearbeitet. Die tägliche Kontrolle durch die Lehrer entfällt. Was tun, wenn die Kinder die Motivation für die täglichen Lernzeiten verlieren?

Kräling: Gerade bei kleineren Kindern sind Konzentration, Durchhaltevermögen und Geduld noch nicht so ausgeprägt. Da sind die Eltern als Motivationscoaches gefragt. Ich helfe meiner Grundschultochter beispielsweise, indem wir das Wochenpensum tageweise einteilen, besprechen, was wann erledigt werden soll und wann Zeit zum Spielen etc. ist. Mit der Aussicht auf die nächste Pause ist es viel leichter durchzuhalten. Und wenn alle Stricke reißen: lassen Sie auch mal Fünfe gerade sein.

Arbeit, Familie, eigene Interessen und noch die Kinder beim Distanzunterricht unterstützen: Wie gelingt Eltern die Abgrenzung dieser verschiedenen Aufgaben und der damit verbundenen Rollen?

Kräling: Durch Prioritätensetzung: Wir alle jonglieren ständig mit verschiedenen Rollen in den unterschiedlichen Lebensbereichen. Nun kommt für viele noch die des Lehrers oder der Lehrerin hinzu. Die wichtigste Rolle im Leben unserer Kinder ist aber, dass wir ihre Eltern sind. Behalten Sie immer im Blick, dass die emotionale Bindung zu Ihren Kindern gerade jetzt wichtiger ist als der schulische Erfolg. Geben sie Ihren Kindern Halt und Zuversicht. Und verlieren Sie nicht aus den Augen, auch noch für sich selbst da zu sein.

Beim ersten Lockdown war das Homeschooling neu – und die Erfahrungen waren spannend. Nach Monaten der Pandemie ist das Nervenkostüm dünner. Was lässt sich gegen das Gefühl der Überforderung tun?

Kräling: Ich glaube da hilft derzeit nur radikale Akzeptanz. Dieser Fachbegriff meint das hinzunehmen, was ohnehin nicht zu ändern ist. Das Überforderungserleben ist allgegenwärtig, macht auch vor uns „Profis“ nicht halt. Sich klarzumachen, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden, kann da schon entlasten. Aber es gilt nicht nur „durchzuhalten“, sondern auch pragmatische Lösungen für Alltagsprobleme zu finden und es sich hier und da leichter zu machen, die eigenen Ansprüche zu senken. Tun Sie sich möglichst oft etwas Gutes. Achten Sie bewusst auf schöne Momente und bewegen Sie etwas - am besten sich selbst raus an die frische Luft.

Geteiltes Leid ist halbes Leid: Ist der Austausch mit anderen Eltern sinnvoll, etwa um Erfahrungen zu teilen und sich gegenseitig zu motivieren?

Kräling: Auf jeden Fall, nicht nur die Eltern untereinander können sich durch Austausch entlasten. Für die sogenannten „Psychohygiene“ ist es total wichtig, soziale Kontakte zu nutzen, um Belastungen und auch positive Erlebnisse zu besprechen. Durch gemeinsames Reflektieren von Erlebnissen, Gefühlen und Gedanken können diese besser verarbeitet und Stress damit auch gut bewältigt werden.

Vormittags Schule, nachmittags Freunde treffen oder den Hobbys nachgehen. Diese gewohnte Tagesstruktur gibt es aktuell nicht. Doch welche Rolle spielen feste Strukturen für Kinder und Jugendliche?     

Kräling: Wir alle werden durch Tagesabläufe und wiederkehrende Rhythmen getaktet. Unsere Kinder und auch Jugendliche brauchen nochmal mehr Struktur, um sich sicher zu fühlen und die Welt als vorhersehbar zu erleben. Den Verlust von Kontrolle und Planbarkeit spüren wir gerade hautnah. Um dies zu kompensieren helfen wiederkehrende Abläufe. Versuchen Sie kleine Rituale in die Tagesstruktur einzubauen, die Geborgenheit und Sicherheit vermitteln. Das kann das gemeinsame Lesen am Abend oder ein Spaziergang in der Mittagspause sein.

Ziel der Aufhebung der Präsenzpflicht ist die Reduzierung der Kontakte. Doch vor allem Kinder leiden darunter, dass sie nun nicht mehr Zeit mit Freunden verbringen können. Wie können Eltern das kompensieren?

Kräling: Eltern können nur bedingt den Kontakt zu gleichaltrigen Freunden ersetzen. Sei es das alberne Rumtoben mit dem Kumpel oder das vertraute Gespräch mit der besten Freundin. Eine Begegnung auf Augenhöhe mit all den Themen, die die Kinder und Jugendlichen von Kita bis Abi bewegen, können Mama und Papa beim besten Willen nicht „vertreten“. Soziale Kontakte mit Gleichaltrigen sollten daher unbedingt mittels digitaler Medien und wenn möglich im engsten Kreis auch persönlich aufrechterhalten werden.

Zeit für einen Ausblick: Derzeit ist ja noch kein Ende der Beschränkungen sowie der Pandemie an sich in Sicht. Was wird sich ändern, wenn Corona zurückgedrängt werden kann, welche Perspektiven erwarten uns?

Kräling: Das ist eine sehr spannende Frage. Ich vermute, dass viele Menschen nach Rücknahme der Beschränkungen eher vorsichtig wieder in ihren alten oder einen neuen Alltag zurückkehren werden. Andere drängen sicher schneller wieder in die Freiheit und werden diese ordentlich feiern. Ich glaube, dass wir uns auf jeden Fall auf einen Sommer der Erleichterung freuen können. Das schöne Wetter und ein hoffentlich starker Rückgang der Fallzahlen werden dann wieder ein unbeschwerteres Leben ermöglichen. Nach dieser langen, dunklen und entbehrungsreichen Zeit haben wir alle einen starken Nachholbedarf nach sozialen Kontakten, Reisen und vielem mehr.

Zur Person: Dr. Svenja Kräling

Dr. Svenja Kräling (39) ist leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina. Ihr Studium und die nachfolgenden Weiterbildungen zur Psychologischen Psychotherapeutin und Supervisorin (VT) hat sie in Marburg und Bad Dürkheim absolviert. Seit 2009 ist sie in der Hainaer Klinik therapeutisch tätig.

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