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Coronavirus: Warum die Gefahr besteht, dass wir jetzt leichtsinnig werden

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

Die Kontaktbeschränkungen gelten zwar weiter, aber sie sind deutlich gelockert worden. Viele Freizeiteinrichtungen dürfen dieser Tage wieder öffnen. Und auch der Breitensport im Freien hat wieder eine Perspektive. Während sich viele Menschen über die Lockerungen der Corona-Beschränkungen freuen, bereiten sie anderen Sorgen: Werden wir jetzt leichtsinnig? Wie gelingt der Spagat zwischen der „Normalität“ einerseits und der Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln andererseits. Antworten auf diese Fragen gibt PD Dr. Florian Metzger, Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina.

© Tonik via Unsplash

Das Gesundheitsamt meldet 147 bestätigte COVID-19-Fälle – bei rund 157000 Einwohnern im Landkreis. Die Dunkelziffer mal außenvorgelassen: Ist es angesichts dieser – zum Glück – äußerst geringen Infektionsquote von 0,094 Prozent nur menschlich, dass das Verständnis für die weitreichenden Einschränkungen zuletzt stark nachgelassen hat?

Metzger: Als am Anfang eine große Angst aufgrund der täglichen neuen Meldungen von mehr Infizierten, Erkrankten und Todesfällen unser Verhalten bestimmt hat, ist es allen leichtgefallen, sich an die deutlichen Einschränkungen zu halten. Nun sind die Zahlen rückläufig, es sind weit weniger Todesfälle eingetreten als befürchtet, sodass bei den meisten Menschen die Angst „als Motor“ wegfällt. Die Beschränkungen, von denen die meisten Menschen dachten, dass sie nur für kurze Zeit sind, werden nun aber wesentlich länger andauern. Insofern ist es natürlich und menschlich, darüber nachzudenken und auch darüber nachdenken zu müssen, welche Beschränkungen mittel- bis langfristig überhaupt Sinn ergeben und welche Beschränkungen wir uns leisten können. Dieses Nachdenken betrifft nicht nur die Politik, sondern kommt in jedem einzelnen auf. Einsicht durch Nachdenken ist aber leider für unser Verhalten ein viel schwächerer Antrieb als Angst.

Die Zahlen sagen auch, dass nur jeder 1068. Waldeck-Frankenberger bestätigt COVID-19-infiziert gewesen ist. Bedeutet: nur die wenigsten kennen überhaupt jemanden, der nachgewiesen erkrankt war oder ist. Macht es einen Unterschied, ob mit einer abstrakten oder mit einer sehr konkreten Gefährdung gelebt werden muss?

Metzger: Das ist ein sehr großer Unterschied. Normalerweise können wir uns von konkreten Gefahren gut fernhalten: wir gehen nicht an einen steilen Abgrund heran, weil wir die Folgen eines Absturzes mit den entsprechenden Verletzungen einschätzen können. Ist ein Geländer vorhanden, können wir diese Schutzmaßnahme gut nachvollziehen und in unsere Entscheidung einbauen. All das haben wir in der aktuellen Situation nicht: wir sehen das Virus nicht, wir können nicht einmal unsere eigene akute Gefährdung einschätzen und erst recht nicht die Gefährdung unserer Umgebung. Wir können die Schutzmaßnahmen intuitiv nicht beurteilen. Das macht es für unsere Alltagsentscheidungen so schwer und intuitiv auch nicht nachvollziehbar. Umso mehr müssen wir bewusst mit der Gefährdung und mit den Schutzmaßnahmen umgehen - das ist die größte Herausforderung.

Man hat den Eindruck, dass die Freude über die Lockerungen aktuell größer ist als über die Tatsache, dass die Ausbreitung des Virus begrenzt werden konnte. Warum ist das so?

Metzger: Das hat mit der abstrakten Gefährdung zu tun: Die Ausbreitung des Virus können wir ja im Alltag auch nicht sehen, wohl nehmen wir aber die deutlichen Einschränkungen wahr. Insofern haben die Einschränkungen für unser Leben einen wesentlich größeren Einfluss als die gefühlten Auswirkungen des Virus. Folglich freuen wir uns über den Wegfall von einschränkenden Maßnahmen mehr als über den Wegfall von etwas, das wir gar nicht wahrgenommen haben. Im Übrigen: Ich erlebe, dass bei nicht wenigen Menschen die Lockerungen große Angst verursachen. Bei etlichen Menschen hat das „Training“, Angst vor einer unkonkreten Gefahr zu haben, dazu geführt, dass sie sich quasi in einem Vorstadium einer Angsterkrankung befinden.

Nun ist Disziplin gefragt: Trotz der Lockerung der Kontaktbeschränkungen und der Öffnung von Geschäften, Spielplätzen und Restaurants gilt es die Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten. Haben Sie Tipps, wie dieser Spagat gelingen kann?

Metzger: Wichtig ist es zu verstehen, dass die „Lockerungen“ eigentlich nur ein Wegfall der gesetzlichen Beschränkungen bedeuten. Das bedeutet, dass wir mit der neuen Freiheit einen Auftrag zur Eigenverantwortlichkeit bekommen. Während vorher die Ansammlungen von Menschen verboten waren, steht es jetzt in unserem Ermessen, ob und wie häufig wir uns mit Menschen treffen. Da hilft es, sich zu klar zu machen, dass anstatt vorgegebener Leitplanken nun gelebte Verantwortung tritt.

Es ist davon auszugehen, dass die Abstands- und Hygienegebote zur neuen Normalität werden. Wie gelingt es, diese Verhaltensgebote zu verinnerlichen – also anzunehmen?

Metzger: Es gibt Regeln, die man sinnvoll in die Normalität übernehmen sollte, zum Beispiel eine Händehygiene. Die schon an vielen Orten zu findenden Erinnerungen helfen dabei, eine Routine aufzubauen. Andere Gebote sind nur in der aktuellen Situation sinnvoll und werden hoffentlich nicht in die Normalität übergehen: zum Beispiel die Reduktion von zwischenmenschlichen Kontakten gerade bei Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Manche Verhaltensweisen, die infektiologisch sinnvoll sind, sind für unsere psychische Gesundheit geradezu katastrophal. Hier muss man nach Situation und Risikoprofil individuelle Entscheidungen treffen.

In Geschäften sind immer wieder Menschen zu sehen, die keinen Mund-Naseschutz tragen und auch keinen Abstand halten. Warum gehen wir so unterschiedlich mit Regeln oder Vorgaben um?

Metzger: Je länger Regeln bestehen, desto mehr „verarbeiten“ wir Regeln. Diese Bearbeitung beinhaltet Vergessen, eigene Interpretationen oder auch ablehnende Reaktionen. Dazu kommt, dass wir unterbewusst die zu befürchtenden Folgen von Regelverstößen in unser Verhalten einfließen lassen. Ein Vergleich: Wie schnell in einer Straße in einem Zone-30-Gebiet gefahren wird, hängt maßgeblich davon ab, ob es in dieser Straße einen fest installierten Blitzer gibt oder nicht. Bei einer so abstrakten Gefährdung wie aktuell brauchen wir - bei aller Eigenverantwortlichkeit, die ich sehr gut finde - auch einen Regelrahmen mit entsprechenden Sanktionen, an den erinnert wird.

Oma und Opa mal wieder in den Arm nehmen, Freunde treffen, Essen gehen: die Sehnsucht nach dem „alten“ Leben ist groß. Sehen Sie Gefahr, dass wir nun leichtsinnig werden?

Metzger: Auch hier gilt: Eigenverantwortung ist gefragt. Das alte Leben ist ja unser Leben. Insofern ist es wichtig, eigenverantwortlich für die Gesellschaft und sich Entscheidungen zu treffen. So ist es ein Unterschied, die alleinstehende Oma ohne Zugang zu digitalen Möglichkeiten zu besuchen und auch in den Arm zu nehmen, oder das vitale Großelternpaar, dass genügend Ressourcen hat, sich zumindest einigermaßen mit der Situation ohne Besuch zu arrangieren. Es macht außerdem Sinn, mit anderen darüber zu sprechen, zum Beispiel ob das Bedürfnis der Freunde oder Familie nach einem Treffen oder einer Umarmung ähnlich ist. Hier helfen keine Regeln, sondern individuelle Entscheidung, Kommunikation und Verantwortungsbewusstsein.

Zur Person: PD Dr. Florian Metzger

PD Dr. Florian Metzger (42) ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Haina. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet seit 2019 die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Spezialisiert ist er unter anderem auf die Behandlung von psychischen Erkrankungen in der zweiten Lebenshälfte. Vor seinem Wechsel nach Haina wirkte Dr. Metzger am Universitätsklinikum in Tübingen, wo er weiterhin einen Lehrauftrag hat und wissenschaftlich tätig ist

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