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Coronavirus: Warum sich ältere Menschen bevormundet fühlen

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

Regelmäßiges gründliches Händewaschen, Abstand von anderen Menschen halten – nur zwei von etlichen Maßnahmen, um das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus zu reduzieren. Die Vorgaben sind hinlänglich bekannt. Doch im Alltag fällt es vielen Menschen schwer, sich daran zu halten. Und dies trifft nicht nur auf Junge, sondern auch auf Alte zu – die in Corona-Zeiten als besonders gefährdet gelten. Was diese Klassifizierung als Risikogruppe für ältere Menschen bedeutet und welche Rolle Gewohnheit und Bequemlichkeit bei der Umsetzung der Vorgaben spielen, erklärt PD Dr. Florian Metzger, Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina.

© Bruno Martins via Unsplash

Maßnahmen wie das Kontaktverbot dienen vor allem dazu, Risikogruppen zu schützen. Empfinden ältere Menschen diese Botschaft als Belastung?

Metzger: Die Maßnahmen der sozialen Distanzierung werden von vielen älteren Menschen als deutliche Belastung angesehen. Nicht nur, dass die realen Kontakte wegfallen. Ältere Menschen geraten zudem unter einen gesellschaftlichen Druck: Die Älteren sind die am gefährdetste Gruppe – darum sollen sie geschützt sein. Das bedeutet aber andererseits für die Älteren in der Gesellschaft, dass sie im Supermarkt seltsam angesehen werden und auf Nachbarschaftshilfen verwiesen werden oder beim Spaziergang darauf angesprochen werden, bitte nicht zu verweilen und möglichst rasch wieder nach Hause zu gehen. Eine sehr aktive ältere Frau sagte mir vorgestern in Frankenberg, dass sie sich plötzlich um viele Jahre gealtert fühle, da sie immer wieder auf ihre Gefährdung durch ihr Alter hingewiesen werde.

Warum nehmen ältere Menschen die Hinweise nicht als gut gemeint, sondern als regelrechte Bevormundung wahr? 

Metzger: Während wir aus (alters-)medizinischer Sicht in den vergangenen Jahren den Älteren Eigenverantwortlichkeit, zum Beispiel bei medizinischen Entscheidungen, Aktivität und im Rahmen von Patientenverfügungen zu selbständigen und mündigen Umgang mit dem Alter und dem Tod nahegebracht haben, passiert nun in der Gesellschaft eine völlige Umkehr: Die an sich gut gemeinte Fürsorge für die Älteren bewirkt auch nebenbei eine Verdrängung der Eigenständigkeit – auch in den Entscheidungen, wie man sich verhalten sollte. Natürlich gibt es um uns herum (nicht nur ältere) Menschen, denen der Ernst der Lage nicht klar ist und die dementsprechend keine informierte Entscheidung treffen können, aber eben auch einige ältere Menschen, die sich bewusst für ein höheres virologisches Risiko entscheiden – vielleicht um das Risiko einer psychischen Erkrankung zu vermindern.

Auch von Hausärzten ist zu hören, dass sich die Risikogruppe der älteren Menschen häufig selber nicht als gefährdet ansieht. Hat das auch etwas mit mangelndem Problembewusstsein oder mit der Verdrängung der eigenen Verwundbarkeit zu tun?

Metzger: Viele ältere Menschen empfinden sich nicht als sonderlich gefährdet – das ist erste der beiden oben genannten Gruppen. Sie fühlen sich noch fit und gesund. Durch das Gesundheitsverhalten in den letzten Jahrzehnten kommen wir aktuell viel stärker in einen Widerspruch als früher: Die heutige ältere Generation ist viel „gesünder“ als früher, oftmals trotz einiger Vorerkrankungen. Dazu kommt, dass unsere heutige Gesellschaft viel älter wird – und sich gleichzeitig jünger fühlt, als sie ist. Beides führt dazu, dass die ältere Generation nicht nur weniger eingeschränkt fühlt, sondern auch weniger eingeschränkt ist. Bei einer Erkrankung wie Covid-19, bei der das Alter und gut eingestellte chronische Erkrankungen aber sehr starke Risikofaktoren sind, entsteht ein besonders starker Gegensatz zwischen empfundener und realer Bedrohung durch diese Erkrankung. Das macht die Umsetzung der Maßnahmen schwieriger als für Menschen, die noch im Berufsleben stehen. Sowohl das Problembewusstsein und die eigene Verwundbarkeit müssen also erst neu im Bewusstsein verankert werden. Wenn das geschafft ist, fehlt es aber trotzdem noch häufig an der Umsetzung.

Gibt es Erklärungen dafür?

Metzger: Ja, eine bekannte Theorie dazu ist die Mind-Behavior-Gap, also die Lücke, die sich zwischen dem Vorhaben und dem Verhalten auftut. Selbst wenn wir unseren Überzeugungen zu leben versuchen, ist es bei sehr vielen Menschen so, dass nur ein Teil der Vorhaben umgesetzt wird. Wir kennen das alle von den Neujahrsvorsätzen: Obwohl wir wissen, dass Rauchen ungesund ist und körperliche Aktivität sinnvoll ist, fällt es uns Menschen schwer, die Neujahrsvorsätze dazu umzusetzen.

Welche Faktoren beeinflussen diese Diskrepanz von Plan und Umsetzung?

Metzger: Für die Mind-Behavior-Gap spielen – unabhängig von der Corona- Krise – verschiedene Faktoren eine Rolle: Zum einen gibt es die Gewohnheit, zum Beispiel regelmäßig alle vier Wochen zum Friseur zu gehen, von der sich zu verabschieden uns schwerfällt. Vor allem dann, wenn Gewohnheiten seit vielen Jahrzehnten bestehen, ist eine Veränderung besonders schwierig. Zum anderen die Bequemlichkeit, zum Beispiel nach dem Einkaufen im Supermarkt nicht gründlich die Hände zu waschen. Zu Bequemlichkeit zählt aber auch, wegen zwei Schrauben zum Baumarkt zu fahren und nicht zu überlegen, ob das jetzt wirklich notwendig ist, dass das neue Vogelhäuschen mit diesen beiden Schrauben zusammengeschraubt wird. Bequemlichkeit ist auch, nicht nachzudenken, ob sich denn nicht die Einkäufe zusammenfassen lassen.

Wie können wir uns nahestehenden Menschen vermitteln, dass sie die Lage wirklich ernst nehmen müssen?

Metzger: Es ist nicht einfach, den Ernst der Lage zu vermitteln ohne massiv Angst zu erzeugen. Am Anfang steht die sachliche Information. Danach ist es wichtig, sich die Mind-Behavior-Gap vor Augen zu führen und zu versuchen, sie auszuhebeln. Das lässt sich am besten in der konkreten Planung des Alltags bewerkstelligen. Ein Beispiel wäre, zusammen einen Einkaufszettel zu schreiben (das geht auch telefonisch!), um die Frequenz der Einkäufe zu reduzieren. Oder seinen Angehörigen einen Zettel mit „20 Sekunden“ an das Waschbecken zu kleben – als Erinnerung, dass die Hände gründlich 20 Sekunden gewaschen werden sollen.

Wird diese Solidarität der Generationen auch nach Corona Bestand haben?

Metzger: Es besteht Hoffnung, dass die erstarkte Solidarität der Generationen nach der Coronakrise weiterhin besteht. Aus der Erfahrung heraus, zum Beispiel aus der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ist allerdings zu befürchten, dass die Solidarität nach dem Ende der Krise sich wieder zurückentwickelt. Vielleicht lässt sich mit gezieltem Bewusstsein für die positiven Effekte der Coronakrise die eine oder andere Errungenschaft in die Nach-Corona-Zeit herüberretten. Mit Sicherheit werden wir ein anderes Verhältnis zur digital unterstützten Kommunikation haben als bisher – auch als Kommunikationsmittel zwischen den Generationen

Zur Person: PD Dr. Florian Metzger

PD Dr. Florian Metzger (42) ist Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Haina. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie leitet seit 2019 die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Spezialisiert ist er unter anderem auf die Behandlung von psychischen Erkrankungen in der zweiten Lebenshälfte. Vor seinem Wechsel nach Haina wirkte Dr. Metzger am Universitätsklinikum in Tübingen, wo er weiterhin einen Lehrauftrag hat und wissenschaftlich tätig ist

 

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