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Coronavirus: Warum uns #socialdistance so schwerfällt

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

„Nur Abstand ist Ausdruck von Fürsorge“ hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Ansprache gesagt. Im Internet macht der Hashtag #socialdistance die Runde. Doch trotz der eindringlichen Aufforderungen aus Wissenschaft und Politik fällt es vielen Menschen schwer, auf Abstand zu gehen. Warum dies so ist, erklärt Dr. Svenja Kräling, leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina

© Helena Lopes via Unsplash

Corona-Partys, volle Spielplätze und Cafés: Gibt es eine psychologische Erklärung dafür, warum sich noch immer viele Menschen nicht an das Gebot der Stunde halten, Abstand voneinander zu halten?

Kräling: Der Mensch ist ein von Grund auf soziales Wesen. Um uns wohlzufühlen, brauchen wir die Gemeinschaft mit anderen. Das war schon in der Steinzeit so, als wir zum Überleben dringend auf den Schutz und die Unterstützung der Gruppe angewiesen waren. Und heute ticken wir eigentlich noch immer so: Wir suchen den Austausch und die Gemeinschaft mit anderen, um uns geistig und emotional „gesund“ zu halten.

Warum fällt es uns so schwer, auf Abstand zu anderen Menschen zu gehen?

Kräling: Der Mensch ist ein „Gewohnheitstier“. Es fällt uns schwer, unser übliches Verhalten neuen Gegebenheiten anzupassen. Besonders wenn dabei so ein grundlegendes Bedürfnis wie das nach Nähe eingeschränkt wird. Es entspricht nicht unserem normalen Verhalten, uns zu isolieren, den persönlichen Kontakt zu Freunden und Verwandten zu meiden oder nur von zu Hause aus zu arbeiten. Vielen fällt es bereits schwer, bei der Begrüßung das reflexartige Händeschütteln zu unterlassen. Dabei können wir uns von anderen Kulturen inspirieren lassen, welche Begrüßungsrituale noch möglich sind. Ein Lächeln ist auf alle Fälle drin!

Ist dieses Phänomen damit zu erklären, dass die Gefahr durch das Coronavirus so abstrakt ist?

Kräling: Teilweise ja. Denn einige Menschen erleben in ihrer aktuellen Lebenssituation noch keine konkrete Bedrohung durch das Coronavirus. Solange die Krisengebiete weit genug weg sind und man im persönlichen Bereich nicht direkt betroffen ist, wird keine reale Bedrohung wahrgenommen. Die empfohlenen Maßnahmen erleben solche Menschen dann als unnötige Einschränkung.

Viele Menschen reagieren jedoch auf eine unsichtbare Bedrohungslage ganz anders: mit starker Verunsicherung und Ängsten. Sie versuchen eher die Angst durch bestimmte Verhaltensweisen zu reduzieren, um dadurch wieder das Gefühl von Kontrolle zu bekommen. Dazu zählen auch das Hamstern von Vorräten und das ständige Checken der neuesten Meldungen. Aber im Positiven eben auch das Befolgen der Abstands- und Hygieneregeln.

Oder ist dieses Verhalten auch Ausdruck der heutigen Ich-Gesellschaft? Warum soll ich mich einschränken? Mir kann Corona doch nichts anhaben….

Kräling: Wir leben in einer Zeit, in der Unabhängigkeit und Individualität wichtige Werte sind. Sich in seinen vielfältigen Freizeitinteressen, Hobbys und Unternehmungen einzuschränken fällt einigen daher schwer. Gleichzeitig blühen in Krisenzeiten aber auch immer wieder „alte Tugenden“ auf: Viele Menschen in Deutschland engagieren sich für Schwächere und Hilfsbedürftige. Trotz schwieriger Arbeitsbedingungen sind die Mitarbeiter*innen im Gesundheitssystem für ihre Patienten da. Daher haben Krisen wie diese immer auch das Potential, die Gemeinschaft zu stärken und das „wir“ wieder vor das „ich“ zu stellen.

Welche Rolle spielt es dabei, dass es sich um staatlich verordnete Einschränkungen handelt?

Kräling: Die aktuelle Situation ist sicherlich einmalig in der Geschichte der BRD: Noch nie musste eine Bundesregierung derartige Einschränkungen anordnen. Die Menschen spüren daher den Ernst der Lage. Aus psychologischer Sicht verstärken „von oben“ verordnete Maßnahmen die erlebte Bedrohung und damit auch die Dringlichkeit zu handeln. Die meisten Menschen befolgen daher auch die staatlichen Vorgaben. Einzelne fühlen sich jedoch durch die gebotenen Maßnahmen bevormundet und sehen diese für ihre eigene Situation als übertrieben an. Für die gesundheitliche Zukunft unserer Gemeinschaft ist es dennoch umso wichtiger, dass wir alle an einem Strang ziehen und den Empfehlungen der Gesundheits-Experten folgen.

Zur Person: Dr. Svenja Kräling

Dr. Svenja Kräling (38) ist leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina. Ihr Studium und die nachfolgenden Weiterbildungen zur Psychologischen Psychotherapeutin und Supervisorin (VT) hat sie in Marburg und Bad Dürkheim absolviert. Seit 2009 ist sie in der Hainaer Klinik therapeutisch tätig.

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