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Datum:
Fachbereich:
Erwachsenenpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Haina gGmbH

Tag der seelischen Gesundheit am 10. Oktober: Prävention, gemeindenahe psychiatrische Versorgung und die Folgen der Corona-Pandemie – Ärztlicher Direktor PD. Dr Florian Metzger im Interview

Die Kreativ-Aktiv-Gruppe der Vitos psychiatrischen Ambulanz Haina trifft sich regelmäßig zu gemeinsamen Unternehmnungen im Freien. Gerade in der jetzigen Corona-Pandemie sind soziale Kontakte und Bewegung im Freien wichtig für die seelische Gesundheit.

Selten war der internationale Tag der seelischen Gesundheit so relevant wie in seiner 28. Auflage – im Jahr der Corona-Pandemie. Denn die Sorge um Gesundheit und finanzielle Existenz sowie die soziale Isolierung stellen gleichermaßen für psychisch kranke wie gesunde Menschen aller Altersstufen eine große Herausforderung dar. Wie die Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina damit umgeht, erläutert Ärztlicher Direktor PD. Dr. Florian Metzger im Interview.

Männern und Frauen stehen ab einem gewissen Alter unterschiedliche Vorsorgeuntersuchungen zu: etwa zur Früherkennung von Darm- oder Brustkrebs. Die seelische Gesundheit spielt in diesem Präventionskanon keine Rolle. Warum ist dies so?

Metzger: Die Frühwarnzeichen für psychische Erkrankungen sind wesentlich unspezifischer. Schlafstörungen können zum Beispiel ein Frühwarnzeichen für eine Depression oder aber auch eine normale Reaktion auf Stress sein. Blut im Stuhl als ein Warnsymptom für Darmkrebs zeigt viel früher, dass etwas nicht in Ordnung ist.

Gibt es denn überhaupt Untersuchungsmethoden, mit denen sich psychische Erkrankungen im Frühstadium diagnostizieren lassen?

Metzger: Leider gibt es gerade für die frühen bzw. leichte Stadien von psychischen Erkrankungen kaum einfach durchführbare Tests. Hierzu ist in der Regel ein ausführlicher Therapeutenkontakt bei einem Arzt oder Psychologen erforderlich. Zudem ist die Abfolge der Stadien nicht regelhaft, nicht wie zum Beispiel bei einer Krebserkrankung, bei der normalerweise nach einem leichten ein schwereres Stadium kommt.

Rein rechnerisch erleidet im Laufe eines Jahres fast jeder dritte Erwachsene eine psychische Erkrankung. Ist das nicht Beleg genug, dass Präventionskonzepte heute erforderlicher als je zuvor sind?

Metzger: Vollkommen richtig. Es wird in vielen Richtungen schon an Präventionskonzepten gearbeitet. Primäre Prävention bedeutet die Verhinderung der Entstehung der Erkrankung und wird intensiv unter anderem durch Aufklärung betrieben. Damit sollen Volkserkrankungen wie Depression, Angsterkrankungen oder Abhängigkeitserkrankungen vermieden werden.

Die meisten Krankenkassen bieten Kurse zur seelischen Gesundheit an – um das Wohlbefinden zu verbessern oder Beschwerden zu lindern. Sind diese Achtsamkeits- oder Stresstrainings sinnvoll?

Metzger: Zur Prävention sind solche Kurse sinnvoll. Ist eine psychische Erkrankung bereits eingetreten, sind sie meistens aber nicht mehr ausreichend.

Die Corona-Pandemie erleben viele Menschen als psychisch sehr belastend. Ab welchem Punkt sollten sie sich Hilfe holen – und vor allem wie?

Metzger: Wenn Symptome wie niedergeschlagene Stimmung, verminderter Antrieb oder über die individuelle Gewohnheit hinausgehende Angstsymptome länger wie zwei Wochen andauern und sich in den Vordergrund drängen, ist es sinnvoll sich Hilfe zu holen.

Schon vor Corona haben vor allem Menschen mit leichteren Symptomen über unglaublich lange Wartezeiten bei Psychotherapeuten oder Fachärzten geklagt. Wie kann es gelingen, Nachfrage und Angebot in ein Gleichgewicht zu bekommen?

Metzger: Die Nachfrage nach Terminen bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten oder in psychiatrischen Institutsambulanzen ist weiter sehr hoch. Gerne würden wir noch mehr Menschen mit psychischen Problemen helfen, aber wie fast überall in Deutschland fehlen insbesondere Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie.

Was tut Vitos Haina dafür, dass kranken Menschen der Zugang zu einer adäquaten Behandlung erleichtert wird?

Metzger: Wir versuchen unsere Zeitressourcen so gut es geht aufzuteilen, um möglichst vielen Menschen zumindest einen diagnostischen Termin anbieten zu können und eine Beratung zu ermöglichen.

Mit mehreren Ambulanzen und Tageskliniken scheinen Sie die Zukunft der psychiatrischen Versorgung in Waldeck-Frankenberg deutlich modularer aufzustellen. Verliert die vollstationäre Versorgung im Krankenhaus an Bedeutung?

Metzger: Eine moderne psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung ist idealerweise nah an den Menschen mit einer psychischen Erkrankung und deren Umfeld und geht individuell mit den Problemen um. Dazu gehört mehr als die klassische vollstationäre Versorgung in einer Klinik. Neben unserem „Mutterhaus“ in Haina mit spezialisierten Behandlungsangeboten für alle großen Gruppen von psychischen Erkrankungen ist die ambulante und teilstationäre Versorgung schon in Korbach zu finden. Der Bau der Ambulanz und der Tagesklinik in Bad Wildungen soll noch in diesem Monat beginnen. Insofern treten neben das klassische Krankenhaus eine Reihe anderer und dezentraler Versorgungsstrukturen.

In Waldeck haben Sie mit Vitos Behandlung Zuhause Korbach vor etwa einem Jahr ein neues Angebot eingeführt: die psychiatrische Behandlung in den eigenen vier Wänden. Ist das ein zukunftsfähiges Versorgungsmodell?

Metzger: Nach einem knappen Jahr Erfahrung sehen wir diese stationsersetzenden Behandlungsform als eine sehr gute und interessante Alternative zur stationären Therapie an. Es ist eine intensive Therapie zu Hause mit einem Team aus Ärztin, Psychologin, Sozialarbeiterin und Fachpflegekräften. Nach dem Start in Korbach im November 2019 werden wir im Südkreis rund um Frankenberg im nächsten Monat starten.

An Bedeutung gewinnen auch digitale Angebote. Welche Ansätze bieten Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen? Und für welche Art von Patient sind digitale Behandlungsformate sinnvoll?

Metzger: Seit Beginn der Corona-Zeit haben auch wir verstärkt digitale Angebote an. Vor allem ambulante psychotherapeutische Termine werden mittlerweile häufig als Videokonferenz wahrgenommen. Dies bietet sich insbesondere als Folgetermin für Patienten an, die bereits einen persönlichen Termin hatten. Aber auch eine digitale Behandlung von Anfang an ist in unserer Ambulanz möglich. Die Corona-Krise hat den Trend zur Digitalisierung in Psychiatrie und Psychotherapie deutlich beschleunigt.

Zurück zur Corona-Krise: Lässt sich inzwischen eigentlich eine Aussage dazu treffen, ob die vielfältigen Belastungen der vergangenen Monate zu einem Anstieg an behandlungsbedürftigen Menschen geführt haben?

Metzger: Für eine endgültige Aussage ist es noch zu früh ist. Wir sehen vor allem, dass die Erkrankungsschwere zugenommen hat. Patienten begeben sich aber zur Zeit weiterhin noch eher später in Behandlung, d.h. wir sehen derzeit nur die Spitze des Eisbergs.

Gibt es Krankheitsbilder, die aktuell häufiger auftreten?

Metzger: Derzeit sehen wir eher die schwerer Erkrankten, dementsprechend weisen die aktuellen Statistiken noch keine Steigerungen bei den verschiedenen psychischen Erkrankungen auf. Allerdings sehen wir eine Zunahme von Angstsymptomen und Zwangssymptomen.

Blicken Sie mal in die Glaskugel. Was glauben Sie: Wird die Corona-Pandemie die seelische Gesundheit der Menschen nachhaltig beeinflussen?

Metzger: Ja, ich gehe davon aus, dass Angst- und Zwangssymptome mehr toleriert werden und daher mehr werden, weil die Menschen die Erkrankung viel später wahrnehmen und erst zum Arzt kommen, wenn die Symptome sich bereits verfestigt haben. Ebenso werden wir durch die Isolation zunehmend mit depressiv Erkrankten zu tun bekommen. Bei älteren Menschen wird die Isolierung zu wesentlich schneller fortschreitenden Demenzerkrankungen führen, da soziale Kontakte, am besten kombiniert mit Bewegung und kognitiven Übungen, die beste präventive Maßnahme gegen Demenz sind.

Hintergrund: Tag der seelischen Gesundheit

Deutschlandweit erkranken jährlich rund 18 Millionen Erwachsene an der Psyche – also fast jeder Dritte. Und doch wird über die seelische Gesundheit weit weniger und nicht so offen gesprochen wie etwa über Herz-Kreislauf-, Krebs- oder Muskelerkrankungen.

Die World Federation for Mental Health (WFMH) ruft deshalb seit vielen Jahren jeweils am 10. Oktober den Welttag der Seelischen Gesundheit aus. Er steht 2020 unter dem Motto „Mental Health for All. Greater Investment – Greater Access“, das die Notwendigkeit einer globalen Grundversorgung im Bereich der seelischen Gesundheit unterstreicht. Ein Appell, der laut Veranstalter angesichts der nicht absehbaren Folgen der Pandemie dringend erforderlich sei.

Das nationale Aktionsbündnis „Seelische Gesundheit“ nutzt die Aktionswoche unter dem Motto „Mit Kraft durch die Krise! Gesund bleiben – auch psychisch“ dazu, über die psychischen Auswirkungen der Corona-Krise aufzuklären und Mut zu machen. Infos im Internet unter aktionswoche.seelischegesundheit.net.

Tipps, um psychisch gesund durch die Corona-Krise zu kommen

„Mit Kraft durch die Krise! Gesund bleiben – auch psychisch“ lautet das Motto des deutschlandweiten Tags der seelischen Gesundheit. Wie dies gelingen kann, erläutert Dr. Svenja Kräling, leitende Psychologin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina

Kann ich einer psychischen Erkrankung vorbeugen – etwa durch Ernährung?

Kräling: Eine ausgewogene Ernährung stellt sicherlich die Basis für ganzheitliche Gesundheit dar. Wobei ausgewogen für mich bedeutet, nicht nur streng diszipliniert „gesund“ zu essen, sondern auch mit Genuss. Neuere Forschungsbefunde bestätigen den Einfluss unserer Ernährung auf unser „Darmhirn“, unser Immunsystem und damit auch auf unser psychisches Wohlbefinden.

Was kann ich ansonsten tun, um seelisch gesund zu bleiben?

Kräling: Neben der Ernährung sind ausreichend Bewegung an der frischen Luft, regelmäßige soziale Kontakte, eine sinnstiftende Tätigkeit und ein gesunder Umgang mit den kleinen und großen Belastungen des Lebens wichtig. Überprüfen Sie immer mal wieder, wie hoch Ihr aktuelles Stresslevel ist und steuern Sie gegen. Man sollte mit den eigenen Problemen aktiv umgehen und diese nicht „in sich hinein fressen“. Tauschen Sie sich mit Freunden oder der Familie aus und bitten Sie im Zweifelsfall um Unterstützung.

Helfen tägliche Rituale dabei, Kraft zu sammeln?

Kräling: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Unsere Psyche liebt gewohnte Abläufe. Denn für unser inneres System ist jede Routine eine Arbeitserleichterung und schafft Kapazitäten für andere Herausforderungen. Tägliche Rituale vermitteln uns das Gefühl von Kontrolle, Sicherheit und Beständigkeit. Sie können uns dabei helfen, in die Entspannung zu finden und so wieder zu Kräften zu kommen.

Jeder Mensch sorgt sich mal oder hat vielleicht Angst vor etwas. Aber was macht eine lang anhaltende Sorge oder Angst mit Menschen – wie aktuell in der Corona-Pandemie?

Kräling: Wir sind evolutionär so „gebaut“, dass wir mit kurzfristigen Gefahrensituationen sehr gut umgehen können. Die sogenannte Kampf-oder-Flucht-Reaktion hilft uns instinktiv richtig zu reagieren, unser ganzer Körper wird aktiviert. Ist die Gefahr überwunden, setzt eine Entspannungsreaktion ein. Bei anhaltenden Bedrohungen wie durch Corona ist unser Alarmsystem aber in Dauerbereitschaft. Als Folge können wir nur schlecht abschalten, verlieren uns in düsteren Gedanken und Zukunftsängsten.

Alleine zu meditieren oder zuhause Entspannungstechniken anzuwenden ist nicht jedermanns Sache. Was empfehlen Sie Menschen, die lieber in der Gruppe etwas für ihre seelische Gesundheit tun wollen?

Kräling: Selbstfürsorgliche Aktivitäten mit dem positiven Effekt sozialer Interaktion zu kombinieren halte ich für äußerst sinnvoll. Sei es Sport, das Erlernen von Entspannungsverfahren, die Teilnahme an Gesprächs- oder Selbsthilfegruppen, die Mitgliedschaft in einem Verein: all das kann man wunderbar mit anderen zusammen machen. Aber auch schon das Treffen mit Freunden, der Austausch über persönlich wichtige Themen kann emotional entlastend und eine Bereicherung sein.

Die Infektionszahlen steigen – und ausgerechnet jetzt beginnt die dunkle Jahreszeit. Ihre Tipps gegen den Oktober-Blues?

Kräling: Diesen Herbst und Winter kommt wirklich einiges zusammen, was die Entstehung von depressiven Erkrankungen befördert. Neben dem zunehmenden Lichtmangel auch die Einschränkungen und Sorgen rund um Corona. Umso wichtiger wird es werden, sich nicht noch zusätzlich einzuschränken durch soziale Isolation und Rückzug in die eigenen vier Wände. Gehen Sie weiterhin häufig raus an die frische Luft, bleiben Sie aktiv und in Kontakt mit Ihren Lieben. Achtsamkeit für die eigenen Gefühle und Selbstfürsorge sollten diesen Winter besondere Priorität bekommen.

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