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Die (Daten-)Lücke zwischen Frauen und Männern - Symposium "Update Psychiatrie" in Kassel

Datum:
Fachbereich:
Erwachsenenpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Kurhessen gGmbH

Vier namhafte Referentinnen blickten auf „Gendertypische Aspekte in der Psychiatrie und Psychotherapie“.

© Vitos Kurhessen
Referentinnen und Moderator: (von links) Dr. Sinha Engel, Dr. Matthias Bender, Ärztlicher Direktor Vitos Klinikum Kurhessen, Dr. Leyla Güzelsoy, Dr. Pamela Reißner und Prof. Dr. Silvia Krumm.

Sind Männer tatsächlich wehleidiger als Frauen? Und welche Fragen werden Frauen in der Therapie oft nicht gestellt, obwohl sie von Bedeutung sind? Und wie kann gendersensible Forschung allen Geschlechtern nützen? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigte sich am Wochenende das sogenannte „Update Psychiatrie“, zu dem Dr. Matthias Bender, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikum Kurhessen, der die Veranstaltung auch moderierte, eingeladen hatte. Vier namhafte Referentinnen blickten dort auf „Gendertypische Aspekte in der Psychiatrie und Psychotherapie“.

„Schmerzen werden bei Frauen weniger ernst genommen“

Der Frage, ob Männer wehleidiger sind als Frauen, ging Dr. Leyla Güzelsoy nach, Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Nürnberg-Nord. Zur sogenannten Männergrippe sagte die Expertin, dass es zum einen biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gebe. So seien Männer wohl weniger empfindlich bei Kälte und Druck. Die Schmerzexpression bei Männern sei bei geringfügigen Erkrankungen höher, aber „Männer verstummen oft bei ernsthaften Erkrankungen“.

Eine Rolle spiele dabei auch die soziokulturelle Prägung, Stichwort „Indianerherz kennt keinen Schmerz“. „Bei Frauen werden Schmerzen oft psychologisiert und weniger ernst genommen, sogar von weiblichen Ärzten.“ Die „Gender Pain Gap“ habe „weitreichende Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden der Frau“. Güzelsoy betonte, was sich auf die gesamte Veranstaltung übertragen ließ: „Es geht nicht darum, Frauen hervorzuheben, sondern um einen Gender-sensiblen Umgang, davon profitieren alle.“ 

Doch nicht nur das unterschiedliche Schmerzempfinden der Geschlechter thematisierte sie, auch Unterschiede bei der Herkunft spielten eine Rolle. Die „Gener Pain Gap“ sei verstärkt auch bei Männern mit Migrationshintergrund festzustellen. Schmerzexpression werde bei ihnen als aggressiv wahrgenommen, deshalb würden beispielsweise Depressionen seltener erkannt. Sie nehmen zudem weniger psychologische Hilfe in Anspruch, haben häufiger mit Suchterkrankungen zu kämpfen. Bei Frauen mit Migrationshintergrund würden Traumata oft nicht ausreichend berücksichtigt, so Dr. Leyla Güzelsoy, auch würden sie überproportional häufig psychosomatische Diagnosen bekommen.

Die Medizinerin mahnte insgesamt zu einem sensibleren Umgang: „Wir hören nicht zu, wir gucken nicht hin.“ Jeder, der mit Menschen arbeite, müsse sensibel sein für kulturelle Unterschiede, Vorurteile hinterfragen.

Der Mann stand stets im Fokus – jetzt findet ein Umdenken statt

Bisher, so kritisierte Referentin Dr. Sinha Engel, stand stets der Mann im Fokus der Forschung. Erkenntnisse seien einfach auf andere Geschlechter übertragen worden. So entstand eine Datenlücke, eine Gender Data Gap, sagte die Psychologische Psychotherapeutin von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Mittlerweile sei international die Notwendigkeit erkannt, dass sich dies ändern müsse.

Mit dem Fokus auf der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) hatte Engel 47 Studien aus verschiedenen Ländern ausgewertet – und eine Datenlücke erkannt. Denn: Männer sind in Studien eher überrepräsentiert. Sie haben zwar auch ein erhöhtes Traumarisiko, beispielsweise aufgrund von Militäreinsätzen, dennoch sind es letztlich die Frauen, bei denen häufiger eine PTBS diagnostiziert wird. 20 Prozent der Frauen erleiden eine solche Störung nach einem traumatischen Erlebnis und acht Prozent der Männer.

In einem weiteren Teil ihrer Untersuchung hatte Dr. Sinha Engel die reproduktive Gesundheit beleuchtet und häufige Versäumnisse festgestellt. Bisher sei die reproduktive Gesundheit fast gar nicht berücksichtigt worden, dabei seien Schwangerschaft und Geburt, Abbrüche und Fehlgeburten ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen. Online haben Engel und ihr Team fast 300 Patientinnen und fast 400 Psychotherapeuten/-innen befragt. Das Ergebnis: Nicht mal die Hälfte der Patientinnen wurden nach reproduktiven Faktoren befragt, obwohl die Therapeuten/-innen die Relevanz als hoch einschätzen. Für Engel bedeutet das: „Die reproduktive Gesundheit hat bisher nicht den Stellenwert, den sie verdient.“ Sie müsse in der Ausbildung, ebenso in der Weiterbildung verankert werden. Und: Mehr Forschung ist nötig, sagt Dr. Sinha Engel.

Das Ziel ihrer Arbeit ist es, Unterschiede in Forschung und Behandlung der Geschlechter aufzuzeigen und allen Menschen den gleichen Zugang zur Behandlung zu ermöglichen.

Das Schweigen der Männer

Prof. Dr. Silvia Krumm, aktuell an der Universitätsklinik Leipzig, stellte ihr Forschungsprojekt „TRANSMODE“ vor. Untersucht werden im Rahmen des Projekts geschlechtsbezogene Besonderheiten in den Erfahrungen einer Depression bei Männern. Die leiden ebenso wie Frauen an Depressionen, allerdings würden diese bei ihnen seltener erkannt. Das liegt an der Unterschiedlichkeit der Symptome, aber auch daran, dass Männer die Anzeichen einer Depression eher verschweigen.

Die traditionelle männliche Rolle ist ein Risiko für die Gesundheit. Männer kümmern sich weniger gut um sich, nehmen Symptome oft nicht ernst genug. Silvia Krumm will mit ihrer Forschung die Grundlagen schaffen für eine geschlechtergerechte psychiatrische Versorgung, die den Bedarfen der Männer entspricht.

Unter dem Titel „…die lieben Hormone“ widmete sich Dr. Pamela Reißner, Klinische Pharmazeutin von Vitos, den hormonellen Veränderungen von der Menarche (der ersten Menstruation) bis zur Menopause. Ein Fokus lag dabei auf der Wechselwirkung von Hormonen und psychischen Erkrankungen, zum Beispiel der Prämenstruellen Dysphorischen Störung PMDS. Sie ging detailliert auf verschiedene Psychopharmaka ein und gab einen Überblick über den Forschungsstand und neue Medikamente, die beispielsweise in den USA bereits zugelassen und auf dem Markt sind. Ein weiterer fachlicher Schwerpunkt war die Pharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit.

Mit inhaltlichen Impulsen aus den Fachvorträgen und Diskussionen inszenierten als kulturell-kreatives Highlight das Schauspielerpaar Sabine Holzloehner und Martin Esters vom „fast forward“-Theater Marburg, die das Symposium begleiteten, einen improtheatralischen Abschluss.

Das abschließende Buffet bot den kulinarischen Rahmen für persönliche Begegnungen und den weiteren fachlichen Austausch.

 

 

Hintergrund

Seit mehr als zehn Jahren findet bei Vitos Kurhessen jedes Jahr das „Update Psychiatrie“ statt. Dr. Matthias Bender, Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikum Kurhessen, organisiert die Veranstaltung mit seinem Team. Die Themenauswahl erfolgt nicht ausschließlich danach, was aktuell und relevant ist für das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie.  Auch die gesellschaftliche Bedeutung eines Themas spielt eine Rolle bei der Schwerpunktsetzung. Eingeladen werden stets namhafte Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland, die einen Überblick geben über ihre Arbeit und daraus gewonnene Erkenntnisse. Mehr als 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nehmen in jedem Jahr daran teil.

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