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"Genau hinsehen“ - der 5. Fachtag Demenz als Plädoyer für Wertschätzung, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung

Datum:
Fachbereich:
Erwachsenenpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Rheingau gGmbH

„Genau hinsehen“ lautete das Motto des 5. Fachtags Demenz, zu dem die Alzheimer Gesellschaft Rheingau-Taunus in dem Festsaal von Vitos Rheingau eingeladen hatte. Doch schon nach der Begrüßung der 1. Vorsitzenden Beate Heiler-Thomas war klar: Hinter dem „harmlosen“ Titel steckt die Chance für einen Perspektivwechsel. Welche Rolle haben Menschen mit Demenz in einer Konsum- und Leistungsgesellschaft, in der sie nicht mehr zu passen scheinen? „Mitten in der kühlen Rationalität der Ausbruch von Gefühl, Aggressivität und Kreativität“, zitierte sie aus dem Buch „Recht auf Demenz“ (Thomas Klie). „Sie könnten auch als Boten einer anderen Realität verstanden werden, die an unseren Perspektiven rütteln.“

Eine, die mit der „anderen Realität“ gut kann, ist Jutta König, die seit 40 Jahren unter anderem als Beraterin, Dozentin und Autorin in der Pflege tätig ist und mit ihrem eindrücklichen Vortrag über typische Fehler im Umgang mit Menschen mit Demenz für mehr Selbstbestimmung und Wertschätzung warb. Der Alltag mit den Betroffenen wird oft als herausfordernd empfunden, „dabei wird meist vergessen, dass deren Verhalten häufig nur die Reaktion auf das Umfeld darstellt“. Und da kann eine respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe statt einer verniedlichenden, herabstufenden oder reglementierenden Sprache einen deutlichen Unterschied machen. Auch dem Phänomen des Weg-, Hin- oder Irrlaufens lasse sich am besten begegnen, in dem man anknüpfe an das, was den Menschen antreibt und in positive Gedanken lenke.

Es gehe darum, das Gefühl hinter dem Verhalten zu erkennen und darauf angemessen zu reagieren. Auch das Wissen um die Biografie sei bei der Alltagsgestaltung hilfreich, aber keine Patent-Lösung. „Denn oft erfahren wir die Lebensgeschichte aus zweiter Hand, und über die jungen Jahre ist Vieles nur vom Hören-Sagen bekannt.“ Es gehe ums Hineindenken, wenn die Demenz das Leben rückwärts aufrollt, die Frage, in welcher Lebensphase sich der andere überhaupt gerade befinde? Neben Kommunikations-, Verhaltens- und Haltungsfehlern sieht sie zudem viel Verbesserungswürdiges in der Umfeld-Gestaltung von Menschen in der Pflege. Wer möchte sämtliche Getränke aus einem Plastikbecher zu sich nehmen, nachts unnötig geweckt werden, Stunden ungefragt vor dem Fernseher sitzen und jede Mahlzeit in Großgruppen zu sich nehmen müssen?

„Viele Probleme sind hausgemacht“, brachte es Moderatorin Simone Viviane Plechinger auf den Punkt und hatte da sicher auch ihre eigenen Erfahrungen mit der Beratung, Begleitung und Entwicklung interdisziplinärer Teams in der Pflege im Sinn.

Gleich mit zwei Vorträgen wusste Prof. Dr. Dieter Braus, Klinikdirektor der Vitos Klink Eichberg und Ärztlicher Direktor des Vitos Klinikums Rheingau, seine Zuhörer zu fesseln.  Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtete er zunächst das Bild von Alterung in der Gesellschaft, Alterungsprozesse in der Evolution sowie wichtige neurobiologische Aspekte des alternden Gehirns. Bei seiner Zeitreise wurde schnell klar: Altern ist heute anders. „Was früher Abbau und Hinfälligkeit bedeutete, wandelte sich in Langlebigkeit - was aber nicht nur Vorteile bedeutet.“ Alter ist der höchste Risikofaktor für eine Demenz. Aber mit Anti-Aging fürs Gehirn könne man kognitive Reserven halten, Nervenzellen schützen und Entzündungen verhindern. Zig wissenschaftliche Studien belegen zahlreiche Möglichkeiten den Alterungsprozess – ohne viel Aufwand – positiv zu beeinflussen.

Ein wahrer Anti-Aging-Booster sei körperliche Aktivität. Am besten sei Bewegung in der Natur. „Der Effekt der Naturerfahrung wird unterschätzt“, belegen große Studien die positive Wirkung.  Stressmanagement wie Yoga, Achtsamkeitsübungen, autogenes Training etc. werde im Übrigen seit Jahrtausenden trainiert, heiße nur immer wieder anders. Ernährung, am besten mediterran mit wenig Kohlenhydraten und vielen guten Ölen, sei ein weiterer wesentlicher Faktor, wobei ab der zweiten Lebenshälfte grundsätzlich weniger Kalorien angesagt seien. Diabetes sollte eingestellt, Depression behandelt und die Hörfähigkeit erhalten werden, Alkohol nur in Maßen genossen, Nikotin am besten gar nicht. Das soziale Umfeld sollte stimulieren, ausreichend Schlaf ist für den Hirnstoffwechsel nicht zu unterschätzen. Und: Wer gut über das Alter denkt, lebt länger. Auch dazu gibt es Studien.

In Eigenverantwortung ist also Vieles möglich, um seinem Körper Gutes zu tun. Und genau das ist spätestens Thema, wenn zu einem frühen Zeitpunkt eine Demenz-Diagnose steht, denn die primären Demenzen sind zwar nicht heilbar, aber der Verlauf kann positiv beeinflusst bzw. verzögert werden. Wie Braus erklärte, haben etwa 15 Prozent der über 60-Jährigen leichte kognitive Einschränkungen. Bei der Frage, ob es sich hier um altersbedingte Einschränkungen oder ein Vorstadium einer Demenz handelt, helfe die moderne Diagnostik mit der neuropsychologischen Testung, Liquordiagnostik und eine besondere Form der Bildgebung, über die als Einzige im Rhein-Main-Gebiet nur seine Klinik verfüge.

Handelt es sich um eine sekundäre Demenz, etwa durch Vitamin B12- und Folsäure-Mangel, eine Depression, Vergiftung oder einen ungesunden Medikamenten-Mix, ist Heilung möglich. Auch bei Alkoholmissbrauch als Ursache könne durch Abstinenz eine deutliche Besserung erzielt werden. Ein Lichtblick in der Alzheimer-Forschung ist Aducanumab, ein Wirkstoff, der in der USA bereits zugelassen ist, „aber nur für eine sehr kleine Gruppe von Alzheimer-Betroffenen im frühen Stadium Sinn macht“, wie Braus betonte. Alzheimer ist nicht gleich Alzheimer – auch hier spiele die Diagnostik eine entscheidende Rolle.

Besonders lang und nervenzehrend kann der Weg bis zur richtigen Diagnose bei Menschen sein, die vor dem Rentenalter an einer Demenz erkranken. Das machte Regina Petri von der Alzheimer Gesellschaft Wiesbaden deutlich. Sie hat KESS (kreativ, engagiert, selbstbewusst, selbständig) gegründet, ein Selbsthilfeangebot mit Unternehmungen, Beratung und Austausch für Jungbetroffene und ihre Angehörigen. Sie haben mit besonderen Herausforderungen im Berufs- und Familienleben zu kämpfen. Die finanzielle Situation und die Beziehung zu den Kindern geraten aus den Fugen. Die Frage der Früh-Rente steht im Raum. Die Partnerschaft wird zur Belastungsprobe. „Oft dauert es quälend lang, bis die notwendige Unterstützung greift.“  Da wird KESS als „Ort, wo ich sein kann, wie ich bin“ sehr geschätzt. Kein Wunder, dass viele Betroffene auch eine lange Anreise nicht scheuen. Noch gebe es viel zu wenig Angebote.

 

Mitteilung der Alzheimer Gesellschaft Rheingau-Taunus e.V.

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