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Oberarzt von Vitos Rheingau, Dr. Daniel Sammet, berichtet über die Auswirkungen von Corona auf Kinder und Jugendliche

Datum:
Fachbereich:
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Rheingau gGmbH

Laut einer Anfang Februar veröffentlichten Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigt fast jedes dritte Kind, ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland, psychische Auffälligkeiten. Über die Auswirkungen von Corona auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen berichtet Dr. Daniel Sammet, Oberarzt der Vitos Kinder- und Jugendambulanz für psychische Gesundheit Wiesbaden.

Eltville, 15. Februar 2021 – Laut einer Anfang Februar veröffentlichten Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE) zeigt fast jedes dritte Kind, ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland, psychische Auffälligkeiten. Über die Auswirkungen von Corona auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen berichtet Dr. Daniel Sammet, Oberarzt der Vitos Kinder- und Jugendambulanz für psychische Gesundheit Wiesbaden.

Wenn wir den Blick von vor einem Jahr bis heute wagen, haben Sie das Gefühl, dass der Bedarf an psychologischer und psychotherapeutischer Betreuung angestiegen ist?

Betrachtet man das ganze Jahr, so sieht man unterschiedliche Phasen seit Beginn der Corona-Pandemie. Mit Blick auf die Versorgung im ambulanten Bereich, gab es zu Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 größere Verunsicherungen bei unseren Patientinnen und Patienten. Gerade auch in Hinblick darauf, wie es weitergehen soll. Diese Verunsicherung hat sich durch die Lockerungen des Lockdowns im Sommer und mit einem gewissen Einzug von Routine wieder etwas gelegt. Ein dafür wichtiger Aspekt war die Öffnung der Schulen.

Doch was wir im Herbst 2020 mit dem überraschenden Einbruch und dem zweiten Lockdown verzeichnen, ist eine Symptomzunahme, insbesondere was Angsterkrankungen, Zwangserkrankungen und Depressive Erkrankungen angeht. Dies hat sich zum Jahresbeginn sogar noch mal verschärft. Auch Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen, niedergelassene Ärzte oder aus dem psychotherapeutischen Bereich bestätigen diese Zunahme.

Könnte man daraus schließen, dass die Schule ein wesentlicher Faktor im Alltag von Jugendlichen und Kindern ist?

Ja, auf jeden Fall. Die Schule bietet Struktur und einen sicheren Rahmen. Der Präsenzunterricht ermöglicht soziale Kontakte und bietet Gemeinschaft.  Als es dann nach den Winterferien nahtlos mit dem Distanzunterricht weiterging, brach für viele Jugendlichen und Kindern spürbar dieser wichtige Rahmen weg.

Verstärkt Corona Krankheitsbilder?

Es ist schwierig an dieser Stelle Zahlen zu nennen, doch aus meiner Sicht und auch im Austausch mit anderen Kollegen aus der ambulanten Versorgung, haben wir derzeit ein starkes Vorkommen an bestimmten Krankheitsbildern. Dies ist natürlich auch der aktuellen Jahreszeit geschuldet, doch Corona ist auch hier ein Verstärker oder Treiber. Gerade bei Erkrankungen im Bereich der Eigengefährdung ist dies besonders seit der zweiten Januarwoche beobachtbar. Es handelt sich dabei um eine Symptomzunahme bei Kindern und Jugendlichen, auch bedingt durch das Gefühl von Perspektivlosigkeit.  In meiner Behandlung stelle ich den Kindern und Jugendlichen oftmals die Frage, wie sie mit der aktuellen Situation umgehen. Viele Kinder schildern, dass sie die Situation als hohe Belastung empfinden.

Was genau empfinden die Kinder und Jugendlichen als belastend?

Sie äußern, dass sie nicht mehr können, weil ihnen der Sport fehlt, sie sich einsam fühlen oder keine sozialen Kontakte haben. Zudem kommt noch ein gewisser Druck hinzu, weil sie die Schule bewältigen müssen. Dies kommt gerade dort vor, wo Eltern, aus unterschiedlichen Gründen, nicht die notwendige Stütze sein können, die der Distanzunterricht fordert.

Gerade junge Jugendliche und Kinder bekommen Aufgaben, die sie meist alleine nicht bewältigen können, wenn eine Familie dann nicht über die notwenigen Ressourcen verfügt, wird das zur Belastungsprobe. Entscheidend kann schon die Frage sein, ob es für das Kind zu Hause einen Rückzugsort gibt.

Ich muss aber dazusagen, dass ich viele Eltern als extrem bemüht und auch unglaublich kreativ erlebe. Doch naturgemäß kommen auch Eltern an ihre Grenzen. Dies hängt unter anderem mit dem Alter der Kinder zusammen und mit dem Krankheitsbild der Kinder und Jugendlichen. Gerade für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen oder Erkrankungen aus dem Autismusspektrum sind Struktur und bestehende Abläufe enorm wichtig. Viele Familien suchen nach ähnlichen Strukturen zu dem Alltag vor Corona.

Gehen Jungen und Mädchen unterschiedlich mit der Krise um?

Dies kann man pauschal nicht so beantworten, doch was ich oftmals beobachte ist, dass Mädchen meist über ein gutes Netzwerk verfügen und viele soziale Kontakte haben. Sie sind gut vernetzt und können dieses soziale Netz während Corona leichter aufrechterhalten. Ich muss hinzufügen, dass dies natürlich ein sehr oberflächlicher Blick ist und stark auch vom Krankheitsbild und dessen Ausprägung abhängig ist. Doch wer vor Corona sowieso schon isoliert und in sein soziales Umfeld nicht gut eingebettet war, der kann jetzt schneller dekompensieren. 

Wie können Eltern/Großeltern/Verwandte in der aktuellen Situation ihre Kinder bestmöglich unterstützen und fördern?

Wie zuvor schon erwähnt, sind viele Eltern sehr kreativ. Gerade bei kranken Kindern ist es wichtig sehr wachsam zu sein und zu schauen, wie ihre Kinder mit der Situation umgehen.

Doch unabhängig, ob es sich um gesunde oder kranke Kinder handelt, es sollte thematisiert werden, wie es den Kindern und Jugendlichen gerade geht und anzuerkennen was gerade fehlt. Sind das beispielsweise die Kontakte im Sportverein, war Sport immer ein Ventil? Ist das der fehlende Kontakt zu den Großeltern, der plötzlich für die Kinder wegfällt? Wichtig ist, das als Eltern zu erfassen und das Problem anzuerkennen. Gemeinsam mit vorhandenen Helfern, ob das Ärzte, Jugendamt, Lehrer oder der enge Familienkreis sind, prüfen, wie kann das, was gerade fehlt, überbrückt werden, um den Kindern Perspektiven aufzuweisen, um sie wissen zu lassen, wie es weitergehen kann.

Dies bedeutet konkret, das Gespräch suchen, Zuhören, wachsam sein, diese Dinge sind sehr wichtig. Den Tag zu strukturieren, Schulzeiten festzulegen, aber auch Aktivitäten und Bewegung einzuplanen.

Gerade bei ängstlichen oder depressiven Kindern und Jugendlichen ist Bewegung wichtig und sollte eingebunden werden oder wenn Jugendliche vorher viel Sport getrieben haben und das jetzt wegfällt. Gemeinsam mit dem Kind überlegen, was fehlt und wie es derzeit eingebunden werden kann.

Gilt dies auch für gesunde Kinder?

Auch bei Kindern, die keine bestehende Erkrankung haben, können Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten oder Schlafstörungen auftreten. Das ist in der derzeitigen Situation absolut nachvollziehbar. Auch hier ist es angeraten wachsam zu sein und aufmerksam zu sein. Zu schauen, gibt es etwas, was das Kind belastet? Kinder sind auch sehr feinfühlig und merken schnell ob z.B. ihre Eltern verunsichert sind oder ebenfalls unter der aktuellen Situation leiden.

Was raten Sie Eltern, die das vermehrt bei ihren Kindern beobachten?

Auch hier rate ich das Kind aufzufangen, die Sorge nicht runterzuspielen, sondern ernsthaft aufnehmen, adäquat zu reagieren und die Situation zu erklären und dem Kind eine Perspektive zu geben.

Wie hat sich Ihre Arbeit durch die Pandemie verändert?

Natürlich arbeiten wir, was die Abläufe und Strukturen betrifft, anders als vor einem Jahr. Besprechungen haben sich verändert, Meetings und Absprachen finden unter Auflage der gängigen Hygieneregelungen statt. Dabei erlebe ich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als extrem kreativ und anpassungsfähig, um weiterhin einen Weg zu finden, wie wir gerade in dieser Phase eine sehr gute qualitative Arbeit machen. Das erfordert natürlich eine gewisse Anstrengung, aber gerade jetzt müssen wir unseren Job besonders gut machen.

Wir haben zudem gute Mittel und Möglichkeiten, wie bspw. videogestützte Behandlungen, die Familien entlasten und auch gut angenommen werden. Es gilt unsere Patientinnen und Patienten bestmöglich zu versorgen und dabei den Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufrecht zu erhalten. Durch die videogestützte Therapie haben wir hier einen guten Weg gefunden. Mittlerweile hat sich das auch auf Seiten der Patienten sehr gut etabliert. Familien sind gut darauf eingestellt, bei den Kindern ist oftmals eine gewisse Neugierde zu erkennen und sie kennen Videogespräche auch meist schon durch die Schule. Und auch die meisten Eltern kennen dies durch ihre beruflichen Tätigkeiten. Und ein großer Vorteil: wir sehen die Mimik der Kinder sehr viel besser, denn meistens tragen wir im persönliche Austausch Masken, wenn es denn die Behandlungssituation zulässt.

Dennoch finden auch weiterhin viele und wichtige Untersuchungen vor Ort statt. Dazu gehören Gefährdungssituationen vor Ort, schwere psychiatrische Erkrankungen oder diagnostische Verfahren.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft wagen, wird Corona 2022 für Kinder und Jugendliche auch dann noch spürbar sein?

Wir hoffen natürlich so wenig wie möglich. Doch wir müssen darauf eingestellt sein. Gewisse Symptome können verzögert auftreten. Einiges, was jetzt eine enorme Anstrengungslast Kindern und Jugendlichen abverlangt, wird Spuren hinterlassen. Dies haben uns bereits andere Krisen gelehrt. Doch wir werden darauf vorbereitet sein.

 

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