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Die gequälte Seele

Datum:
Fachbereich:
Erwachsenenpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Riedstadt gGmbH

Offener Leserbrief zum Artikel von Günter Wallraff im ZEITMAGAZIN Nr. 6 vom 3. Februar 2011

Leserbrief zu dem Aufsatz „Die gequälte Seele“ von Günter Wallraff

Der Autor Günter Wallraff beschreibt die Erlebnisse eines Betroffenen und leitet hieraus das Bild einer Psychiatrie ab, die Menschen mit Unverständnis, Repression und der Gabe von Psychopharmaka statt Gesprächen begegnet. Es würden zudem Psychopharmaka verabfolgt, die „schwerste Nebenwirkungen“ hätten, welche die Lebenserwartungen der Betroffenen verkürzten und die den Patienten gegen deren Willen verabfolgt würden. Dies alles unterstellt der Autor auch den Ärzten des Philippshospitals und bezichtigt sie darüber hinaus einer folgenschweren Fehldiagnose. Soweit im Kern sein Bericht.

Wie aber sieht die Wirklichkeit aus?

Der Autor übernimmt ungeprüft die Angaben eines Betroffenen und behauptet, er habe die Klinik um Stellungnahme gebeten. Das hat er nicht. Er hätte durchaus umfassende Auskünfte erwarten dürfen. Dies hätte allerdings vorausgesetzt, dass Herr Feldmann die Ärzte von der Schweigepflicht entbindet und das noch schwebende Verfahren vor der Gutachter- und Schlichtungsstelle der Landesärztekammer abgeschlossen wäre. Dies ist aber nicht der Fall, weshalb zu dem konkreten Bericht zur Zeit leider nichts gesagt werden kann. Dass darüber hinaus die Staatsanwaltschaft in dem zweiten von Herrn Feldmann betriebenen Verfahren nicht einmal einen Anfangsverdacht äußerte und deshalb die Ermittlungen einstellte, hätte den Autor zumindest zum Nachdenken veranlassen müssen. Hat es aber nicht. Soweit zu dem konkreten Anlass.

Wie aber sehen die Psychiatrie im Allgemeinen und das Philippshospital im Besonderen im Jahr 2011 tatsächlich aus?

Zunächst ist festzuhalten, dass Wallraff in seinem Erlebnisbericht im Jahre 1967 durchaus recht hatte. Diese auch von der Expertenkommission der Bundesregierung beschriebenen dringend verbesserungsbedürftigen Verhältnisse waren schließlich acht Jahre später der Startpunkt einer umfassenden Psychiatriereform, die das Bild der Versorgungsregion des Philippshospitals nachhaltig verändert hat. Dieser enorme Umwälzungsprozess soll an einigen ausgewählten Daten verdeutlicht werden:

Im Jahre 1967 hatte das Philippshospital 1.216 Betten und musste eine Region mit 1,2 Millionen Einwohnern versorgen. Außerhalb der Klinik konnten sich Menschen mit seelischen Störungen in der gesamten Region lediglich an 9 niedergelassene Nervenfachärzte wenden. Sonst gab es keinerlei Angebote. Die durchschnittliche Verweildauer in der Klinik belief sich damals auf 122 Tage, etwas mehr als die Hälfte der Patienten wurden gegen ihren Willen eingewiesen, was unter diesen Bedingungen nicht verwundert.

Heute im Jahre 2011 ist die Anzahl der Betten im Philippshospital auf ein Zehntel des Ausgangswertes gesunken, nämlich auf 189 Betten. Die Versorgungsregion umfasst noch 300.000 Einwohner. In diesem Bezirk sind 2 Tageskliniken sowie 2 Außenstellen der Institutsambulanz entstanden, ferner beschützte Arbeitsplätze, drei gemeindepsychiatrische Zentren und Beratungsstellen, in denen Menschen mit seelischen Störungen Hilfe und Rat suchen können. Unsere Institutsambulanz führt in Krisenfällen auch Hausbesuche durch, so dass eine nachhaltige Behandlung gewährleistet ist und auch wahrgenommen wird. In Zahlen ausgedrückt heißt dies ca. 10.000 Fälle pro Jahr in der Institutsambulanz und 2.700 Aufnahmen in der Klinik, wobei 95% der Patienten freiwillig zur Aufnahme kommen und im Schnitt 22 Tage in der Klinik bleiben.

In der Klinik selbst wird eine an die Bedürfnisse und Ressourcen der Patienten individuell angepasste Therapie angeboten, die Psychotherapie ebenso selbstverständlich in den Alltag integriert wie alle anderen Therapieverfahren welche sich als nützlich und bewährt erwiesen haben. Selbstverständlich bestehen schon seit vielen Jahren Selbsthilfegruppen für Angehörige und Patienten ebenso auch eine Psychosewerkstatt, in der Angehörige, Betroffene und Profis an einem Tisch sitzen und gemeinsam Erfahrungen austauschen sowie ein unabhängige Beschwerdestelle. Darüber hinaus hat sich die Klinik als einzige psychiatrische Klinik in Deutschland an einem von der Weltgesundheitsorganisation initiierten Modellprojekt zur Förderung seelischer Gesundheit beteiligt.

Diese vorläufige Aufzählung nur einiger Aspekte unserer alltäglichen Arbeit soll hier zunächst einmal genügen. Diese vielfältigen Aktivitäten sind übrigens in dem von Wallraff zitierten Band* „Haltestation Philippshospital“, eine Festschrift zur Historie der Klinik, ausführlich beschrieben, werden aber von ihm mit keiner Silbe erwähnt.

Sieht so ein kritischer, die Verhältnisse sorgfältig analysierende Journalismus aus? Nützt diese die Realität verleugnende Polemik des Verfassers? Wohl kaum.

Dieses Zerrbild einer Klinik, welches einer kritischen Überprüfung nicht standhält, vermag aber sehr wohl einigen Schaden anzurichten in dem es nämlich alte Vorurteile gegen die Psychiatrie fortschreibt und damit der ohnedies unerträglichen Stigmatisierung psychisch Kranker in dieser Gesellschaft munter Vorschub leistet. Unter anderem mit der Folge, dass lediglich 10% aller Menschen mit Depressionen eine angemessene Behandlung erfahren und dies trotz ausreichender ambulanter und stationärer Angebote in der Bundesrepublik. Eine der Hauptgründe hierfür ist eben die Stigmatisierung psychischer Störungen und psychiatrischer Institutionen wie sorgfältige Studien unter anderem von Angermeyer und Hegerl belegen konnten. Nach wie vor gehört es sich nicht, psychisch krank zu sein und sich bei Bedarf in eine Klinik zu begeben. Beiträge wie die von Wallraff gießen gehörig Öl in dieses Feuer der gesellschaftlichen Ausgrenzung von psychischer Krankheit und verunsichern Betroffene ohne Not.

Wer sich aber jetzt ein unvoreingenommenes Bild davon machen möchte, wie die psychiatrischen Versorgungsrealitäten wirklich aussehen, ist jederzeit herzlich eingeladen, das Philippshospital zu besichtigen und sich über unseren Alltag zu informieren – Herr Wallraff übrigens auch.
 

Prof. Dr. Hartmut Berger
Ärztlicher Direktor
Vitos Philippshospital Riedstadt

* „Haltestation Philippshospital“. Ein psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel 1535 – 1904 – 2004. Eine Festschrift zum 500. Geburtstag Philipps von Hessen, herausgegeben von Irmtraut Sahmland, Christina Vanja, Hartmut Berger, Kurt Ernst, Marburg; Jonas Verlag 2004, ISBN 3-89445-341-9

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