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„Die Polarisierung in der Gesellschaft wird zunehmen“

Datum:
Fachbereich:
Kinder- und Jugendpsychiatrie
Gesellschaft:
Vitos Herborn gGmbH

Prof. Dr. Matthias Wildermuth über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche

© Vitos

Herborn, 30. Juli 2020 /  „Die Polarisierung der Gesellschaft, dass die Starken noch stärker und die Schwachen noch schwächer werden, wird zunehmen im Herbst“, erwartet Prof. Dr. Matthias Wildermuth. Er ist Ärztlicher Direktor der Vitos-Rehberg-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Herborn sowie der entstehenden kinder- und jugendpsychiatrischen Vitos-Klinik in Hanau. Wildermuth leitet seine Vorhersage aus der Beobachtung von Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen der Corona-Restriktionen ab. Denn Patienten mit Resilienzfaktoren haben die Einschränkungen genutzt, um neue und engere Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Zugleich haben aber auch die Häufigkeit sozialer Ängste und sozialer Phobien deutlich zugenommen. In einem Interview mit Vitos schildert Wildermuth, dass Kinder und Jugendliche ganz unterschiedlich auf die Restriktionen während der Corona-Pandemie reagiert haben.

Herr Professor Dr. Wildermuth, haben Kinder und Jugendliche auf spezifische Weise unter den Corona-Restriktionen im Frühjahr dieses Jahres gelitten?

Wenn wir Kinder und Jugendliche betrachten, dann beobachten wir, dass sie unter den Restriktionen von Beziehungen zu anderen Menschen ausgeschlossen waren, die ihnen  wichtig sind.  Zum Beispiel von den Beziehungen zwischen Peers und Peers, also von Beziehungen unter Gleichaltrigen. Die Kinder und Jugendlichen waren ausgeschlossen vom Kontakt zu wichtigen sozialen Bezugspersonen wie Lehrerinnen und Lehrern. Aber manche Kinder und Jugendliche, die besondere Hilfe benötigen, waren auch von der Beziehung zu Familienhelfern ausgeschlossen, die durch das Jugendamt gestellt wurden. Diese Helfer traten – wenn überhaupt – nur noch telefonisch mit den Kindern und Jugendlichen in Kontakt. Darunter haben einige Kinder und Jugendliche, die Hilfe brauchen, vermutlich gelitten, wenn sie sich zum Beispiel Mit ihren Sorgen, Ängsten, Einsamkeitsgefühlen und aggressiven Impulsen alleingelassen fühlten.

Haben Jugendliche gegenüber Kindern noch auf andere Weise gelitten als Kinder?

Bei unseren jugendlichen Patienten kamen im Lockdown noch andere Störungsbilder hinzu. Die Probleme betreffen aber Jugendliche in ihrer Lebensphase generell. Letztendlich können die Restriktionen zu Problemen in der Entwicklung der eigenen Identität geführt haben. Jugendliche entdecken sich, indem sie ihre Welt und ihre Möglichkeiten in der Welt entdecken. Die Restriktionen zwangen die Jugendlichen zum Rückzug von der Exploration der Welt, also von der Entdeckung der Welt,  und sie nahmen ihnen Möglichkeiten, sich selbst auszuprobieren. Die Häufigkeit sozialer Ängste und sozialer Phobien hat zumindest unter unseren Patienten im jugendlichen Alter deutlich zugenommen, aber auch die der Entwicklung irrationaler Ideen von tödlichen Erkrankungen: Die Jugendlichen stellten sich vor, sie würden schwer bis tödlich erkranken, obschon Kinder und Jugendliche von Covid 19 weit weniger betroffen sind als Erwachsene und ältere Menschen.

Lassen sich die psychischen Belastungen, die Kinder und Jugendliche während der Corona-Restriktionen erfahren haben, quantifizieren?

Nein, das sind ja alles Aspekte, die wir kaum beforschen konnten. Wir haben ein bundesweites Projekt, Pro Head, eine internetbasierte Befragung zur psychischen Gesundheit unter 15.000 Jugendlichen. Aber auch die Forscher waren durch die Einschränkungen wegen Corona blockiert. Doch es gibt Teilergebnisse.

Gibt es erste Erkenntnisse, wie junge Leute im Zeitalter der digitalen Kommunikation mit den Restriktionen zurechtkommen?

Ja, entsprechende Teilergebnisse existieren. Zum Beispiel, dass sich Digital Natives, also junge Leute, die mit den neuen, digitalen Kommunikationsmöglichkeiten aufgewachsen sind, durch die Ausgangsbeschränkungen gar nicht so sehr eingeschränkt gefühlt haben, weil das zu Hause bleiben ihrer Lebensweise samt ihrer starken Mediennutzung entgegenkam. Demjenigen, der ohnehin lieber am Computer spielt, als vor die Tür zu gehen, oder diejenige, die lieber über ihr Handy kommuniziert als im direkten Gespräch mit anderen, diese Jugendlichen sahen sich in ihrer Lebensweise geradezu bestätigt. Endlich durften sie die Stubenhocker sein, die sie zuvor schon waren, auch wenn das den Eltern nicht passte. Jetzt konnten die Jugendlichen den Erwachsenen entgegnen: Ich mache es doch richtig! Auch den Schulabsentisten, den Schulschwänzern, kamen die Restriktionen, das verordnete zu Hause bleiben, entgegen.

Sprechen die Digital Natives lieber mit dem Computer als mit dem Menschen?

So pauschal kann man das nicht sagen. Aber es fällt auch auf, dass es jenen Patienten, denen es sonst schwer fällt, ihre psychische Lage zu verbalisieren, teilweise leichter fällt, sich mit Hilfe der Tele-Angebote auszudrücken. Sie können Probleme am Computer geschützter formulieren, ohne Scham zu entwickeln.

Wie haben die Kinder und Jugendlichen, die in Ihren Vitos-Kliniken behandelt werden, auf die Belastungen während der Corona-Pandemie reagiert?

Wir beobachten ganz vielfältige Reaktionen.

Die Patienten mit ganz schweren psychischen Störungen zeigen sehr wenig Kontamination oder Interferenz, das heißt: Sie reagieren gar nicht auf die Veränderung des gesellschaftlichen Lebens unter den Bedingungen der Pandemie. Sie sind, was Corona betrifft, wie aus der Zeitgenossenschaft herausgefallen.

Unter den Patienten, die wenig auf die Veränderungen durch Corona reagieren, kommt es teils zur Selbstaffirmation bei den zwanghaften, ängstlichen und auch paranoiden Patienten. Selbstaffirmation heißt, dass ihnen Gedanken in den Sinn kommen, die das eigene Selbstvertrauen stärken. Unter der Bedrohung durch das Virus machen sie sich sozusagen selber Mut.

 

Wieder andere dieser Patienten fixieren sich auf vorher gebildete Vorstellungen oder sehen sich darin bestätigt. Sie ziehen sich in Vorstellungen zurück, lassen nichts an sich herankommen. Dabei wäre eine Verunsicherbarkeit im Fall dieser Patienten sogar ein positiver Effekt, weil die Verunsicherung die fixen Ideen, Einstellungen und Verhaltensweisen, in die sich diese kranken Menschen zurückgezogen haben, auflockerte. Umgekehrt kann die Verunsicherung bei latent Kranken zum Teil zu Verschlimmerungen führen. Zum Beispiel wenn sie sich in ihre Ängste noch mehr hineinsteigern. Wir beobachten aber auch die positive Relativierung der eigenen Labilität durch das Gefühl, nicht mehr vereinzelt und isoliert mit den eigenen Problemen dazustehen nach dem Motto: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Was ist die positive Relativierung der eigenen Labilität?

Die Patienten empfinden sich selber als schwach, als labil. Nun merken sie: Auch andere sind verunsichert, empfinden sich als schwach oder verwundbar angesichts der Bedrohung durch ein unsichtbares Virus. Ich bin also nicht der einzige Mensch, der Schwäche empfindet oder daran leidet.

Wenn Sie ein Fazit ziehen: Wie haben Ihre Patienten im Großen und Ganzen auf die Veränderungen durch Corona reagiert? So wie der Durchschnitt der Bevölkerung?

Die meisten unserer Kinder und Jugendlichen haben in den ersten Corona-Wochen mit ausgeprägter Anpassung reagiert. Dann aber stieg die Spannung doch und teils haben die Patienten die Therapie abgebrochen. In Kindern mit unsicherer Bindung kam die Angst auf, sie würden nach dem langen Therapieaufenthalt in der Klinik nicht mehr zu Hause von der Familie angenommen. Dennoch: Bisher haben sich die meisten unserer jungen Patienten überstark stabil gehalten.

All jene Patienten, die Resilienzfaktoren haben, gehen besonders gestärkt aus der bisherigen Corona-Zeit hervor. Sie nutzten die Zeit, um sich mit anderen Menschen zu beschäftigen, spielten Brettspiele und gingen Beziehungen ein. Sie haben so vieles gelernt und neu für sich gewonnen – an Kontakten mit den Eltern und an Zeit miteinander -, so dass man ein Kontrastphänomen erkennt. Die Polarisierung der Gesellschaft, dass die Starken noch stärker und die Schwachen noch schwächer werden, wird zunehmen im Herbst. Das, denke ich, gilt für alle Menschen.

Wie bereiten Sie Ihre Patienten auf die Zeit nach den Ferien vor – und was können wir alle davon lernen?

Wir arbeiten in unseren Kliniken ressourcenorientiert. Wir versuchen die Menschen darauf vorzubereiten, dass sie auch andere Fähigkeiten entwickeln können, die bis jetzt wenig gefragt worden sind. Statt immer mehr Beschleunigung im Leben, zeigen wir unseren Patienten, dass wir alle auch aus der Verlangsamung Kraft schöpfen können. Statt auf kurzfristige und vielfach nur vermeintliche Erfolg zu setzen, animieren wir unsere Patienten zu mehr Nachhaltigkeit im Denken und Handeln.

Wir setzen auf Resonanzerlebnisse, die etwas im Einzelnen sozusagen zum Klingen und Schwingen bringen, so dass der Mensch spürt, dass das Erlebnis ihm gut tut, dass es etwas positiv in ihm in Gang setzt.

Wir zielen auf mehr Entschleunigung. Wir helfen den Menschen, mehr darauf zu achten, was sie wirklich möchten und empfinden, und was sie anderen darüber mitteilen. Das sind Chancen der Verinnerlichungsarbeit. Wir lernen uns besser kennen und verinnerlichen das, was wir neu entdeckt und gelernt haben, um es mit in die Zukunft zu nehmen. Ein solcher Umgang mit uns selbst und unseren Ressourcen, mit unserer Zeit, mit unseren Freunden und Familienmitgliedern, mit unseren entdeckten und noch zu entdeckenden Fähigkeiten und Stärken haben weniger mit einem Wachstums-, sondern mehr mit einem Vertiefungsmoment zu tun.

Wir machen nicht einfach nur mehr vom Bekannten und Oberflächlichen, sondern wir vertiefen die neuen, guten Erfahrungen, die wir in der Corona-Zeit gesammelt haben, um daraus nachhaltig Nutzen für uns und andere zu ziehen. Wenn dann noch die Lehrer, Mitschüler und Eltern nach dem Schulbeginn auf die Kinder liebevoll-positiv zugehen, dann kann es auch zu Positivierungen im Herbst kommen. Dann können das Gute und die Stärken, die wir im Frühjahr und Sommer entdeckt und entwickelt haben, aufgehen wie eine Frucht im Herbst. Wenn allerdings die Familien, deren Belastungsgrad im sozio-ökonomischen oder psycho-sozialen Kontext zu groß ist, oberdrein weitere materielle Einbußen erfahren werden im Herbst, dann werden die Kinder und Jugendlichen in diesen Familien noch mehr Symptome zeigen: sei es auf der Verhaltensebene, auf der körperlichen Ebene oder seien es verinnerlichte Symptome, die im Inneren am Kind nagen, und die wir von außen nicht sogleich erkennen.

Fotos (Vitos):
Während die Schulen coronabedingt geschlossen waren, mussten die Eltern einige Lehrertätigkeiten übernehmen und bei den Schulaufgaben unterstützen.

Hintergrund:
Die Vitos Klinik Rehberg ist eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie mit Hauptstandort in Herborn. Sie verfügt insgesamt über 117 Betten, 67 tagesklinische Plätze sowie Ambulanzen in Herborn, Gelnhausen, Hanau, Limburg und Wetzlar. Die Vitos Klinik Rehberg bietet Diagnostik und Therapie in Form ambulanter, tagesklinischer und vollstationärer Behandlungen an. Das Alter der Patienten liegt zwischen der Neugeborenenphase und 18 Jahren. Es werden seelische Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie sämtliche Störungsbilder in allen Schweregraden behandelt, bei denen psychische Ursachen oder Folgen im Vordergrund stehen.

Indes baut Vitos Herborn in Hanau eine neue Klinik. Denn bislang gibt es in der Region kein derartiges Angebot für junge Patienten mit seelischen Erkrankungen. Vitos Herborn hat als gemeinnützige Gesellschaft auch den kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsauftrag für die Region Hanau, westlicher Main-Kinzig-Kreis, Offenbach und Kreis Offenbach. Sie betreibt seit vielen Jahren eine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz und Tagesklinik sowohl in Hanau als auch eine weitere Ambulanz in Gelnhausen. In der neuen Klinik können bis zu 51 Patienten auf drei Stationen behandelt werden. Für den ambulanten und tagesklinischen Bereich sind 20 Plätze vorgesehen. Diese befinden sich derzeit noch an der Geibelstraße und werden nach Fertigstellung der Klinik an den Sophie-Scholl-Platz verlegt. Der Neubau ist hell, freundlich und modern gestaltet. Er setzt sich aus zwei nahezu baugleichen Gebäudeteilen zusammen, die durch einen Übergang verbunden sind. Beide Häuser bekommen einen eigenen Garten. Der Außenbereich wird gemeinsam mit der Schule für Kranke, einer Einrichtung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) für die schulpflichtigen Patienten, genutzt. Diese wird künftig im sanierten und umgebauten Nachbargebäude untergebracht sein. Das Gesamtvolumen für den Neubau auf dem Areal der ehemaligen „Hutier-Kaserne“ beträgt zirka 20 Millionen Euro. Die neue Klinik, in der die Behandlung aller kinder- und jugendpsychiatrisch relevanten Störungsbilder vorgesehen ist, soll voraussichtlich Ende 2020 in Betrieb gehen.

Die Bereitstellung der Fotos erfolgt für Zwecke der Medienberichterstattung. Eine darüber hinausgehende kommerzielle Nutzung, insbesondere für Werbezwecke, ist nicht zulässig. Eine private Nutzung der Bilder ist ausschließlich im Rahmen der Schrankenregelungen des Urheberrechtsgesetzes möglich.

Im Falle einer Veröffentlichung der Fotos ist Vitos Herborn als Quelle zu benennen. Bearbeitungen, Umgestaltungen oder Manipulationen der digitalen Bilder, die über Farbkorrekturen, Ausschnitte und Verkleinerungen hinausgehen, sind unzulässig und nur mit vorheriger schriftlicher Zustimmung seitens der Pressestelle von Vitos Herborn erlaubt.

Falls Sie weiteres Bildmaterial zu unseren Einrichtungen benötigen, wenden Sie sich bitte an die Unternehmenskommunikation von Vitos Herborn. 

Um Zusendung eines Belegexemplars bzw. eines Links wird gebeten.   

 

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