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Wie uns die Corona-Krise stärken kann

Datum:
Fachbereich:
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Herborn gGmbH

Prof. Dr. Matthias Wildermuth über den Umgang mit der Corona-Pandemie von Kindern, Jugendlichen und Familien

Prof. Dr. Matthias Wildermuth, Vitos Klinik Rehberg

Hanau/Herborn, 20. August 2020 /Kinder, Jugendliche und Familien haben die Chance, gestärkt durch die Corona-Krise zu gehen. Denn je nachdem, wie man die erfahrenen negativen Erlebnisse und Ängste verarbeitet, entscheidet darüber, ob man gestärkt oder enttäuscht wird, sagt Prof. Dr. Matthias Wildermuth. Er ist Ärztlicher Direktor der Vitos Klinik Rehberg in Herborn sowie der zukünftigen Vitos Klinik für Kinder-Jugend-Psychiatrie und Psychosomatik Hanau. Er empfiehlt eine „sukzessive Verdauung“ all dessen, was war und vielleicht auch noch kommen wird. Denn es gebe keine Rückkehr zur Normalität, wie sie vor Corona existiert habe. Es komme darauf an, Widersprüche und Ungewissheit zu ertragen. „Wir müssen es im besten Falle lernen, für uns und andere auch als medizinische Laien in der Pandemie Orientierungslinien für das Leben im Alltag zu entwickeln“, sagt Wildermuth im Interview mit Vitos.

Herr Professor Dr. Wildermuth, welchen Rat geben Sie den Eltern und Großeltern für das Leben unter den Bedingungen dieser Pandemie – die wieder aufflammen kann?

Denen, die in der Zeit der strengen Restriktionen gut miteinander zurechtgekommen sind und die Zeit unter den veränderten Lebensbedingungen gut genutzt haben, um für sich und mit anderen sinnvolle und wertvolle Dinge zu tun, denen wünsche ich, dass sie sich mehr und mehr zutrauen. Freilich, Vorsicht ist immer geboten, denn die Infektion kann zu jeder Zeit wieder aufflammen, wie wir es zum Beispiel in deutschen Schlachtbetrieben oder im nordostspanischen Katalonien in diesem Sommer erlebt haben. Aber indem alle Acht geben und bedenken, dass Corona nicht verschwunden ist, sondern jederzeit aufflammen kann, haben doch alle die Chance, sich individuell mehr Freiheiten zu geben als noch zu Beginn der Pandemie. Jeder darf wieder für sich oder in kleinen Gruppen mehr erleben und das Erlebte - zum Beispiel in Gesprächen oder durch seine gute Laune - mit anderen in der Familie teilen. Diejenigen aber, die im Lockdown mit ihren Familien unter gefährlichen Bedingungen gelebt haben, brauchen Orte und behutsame Hilfen, um wieder in die Normalität oder sagen wir besser: in die neue Normalität zurückzufinden.

Was meinen Sie mit „gefährlichen Bedingungen“, unter denen Familien gelebt haben?

Manche Menschen waren zum Beispiel mit Ängsten vor einer Infektion oder wirtschaftlichen Einbußen stark belastet. Sie zogen sich vollkommen zurück aus Angst vor einer Erkrankung, wiesen vielleicht sogar andere Menschen zurück, die helfen wollten. Sie verhielten sich rätselhaft für die Menschen in ihrer Umgebung. Andere hatten Angst, dass sie ihre Arbeit verlieren werden. Selbständige fürchteten um ihre Existenz. Nicht alle Eltern und Kinder waren permanent überfordert durch die Enge zu Hause, wo gleichzeitig Home Office und Home Schooling mit online-Hausaufgaben stattfinden sollten, während sich Kinder und Erwachsene eingesperrt fühlten. Aber anstrengend war die Situation bisweilen wohl für jeden, und für manche war sie sogar stark belastend. Wahrscheinlich ist es in dieser Situation in manchen Familien auch einmal laut geworden, es kam zu Streit mit Worten oder Handgreiflichkeiten. Vielleicht wurde schlecht über andere geredet, zu viel getrunken und vielleicht gab es auch zu viel Nähe, die zu sexuellen Übergriffen führte. Ich behaupte nicht, dass das in jeder Familie oder in jeder Lebensgemeinschaft so war. Aber unter den restriktiven Bedingungen verbunden mit den Ängsten ob der vielen Ungewissheiten, die Corona über uns brachte, erscheint es doch sehr unwahrscheinlich, dass es nicht zu gefährlichen Bedingungen in der ein oder anderen Lebensgemeinschaft gekommen sein sollte.

Wie können wir Kindern helfen, aus den Belastungen, die Corona über uns allen bringt, eine „neue Normalität“ zurückzukehren?

Kinder aus Familien, die im Lock-Down mit Ängsten außerordentlich belastet waren, brauchen Orte, an denen sie sukzessive lernen, das auszusprechen, was sie in der Zeit der Restriktionen erlebt haben. Sie brauchen Zeit, um das, was sie als Belastung erlebt haben, zu realisieren. Und dann brauchen sie erwachsene und sozial kompetente Menschen, die hinhören: Menschen, die das, was Kinder nicht mitteilen können, aussprechbar machen.

Benötigen die Familien und deren Kinder also Hilfe von außen?

Ich muss den Kindern die Möglichkeit geben, dass sie sich auch mit Menschen, die nicht zur engeren Familie gehören, austauschen können. Man muss ihnen ermöglichen, durch neutrale Themen langsam zu den heikleren Themen vorzustoßen. Nicht durch Ausfragen und Eindringen, sondern durch das Aufgreifen der Signale, die die Kinder von sich geben.

Das kann eine Aufgabe für Menschen aus der Nachbarschaft, aus Vereinen, Kirchengemeinden und Musikgruppen, für Menschen aus der erweiterten Verwandtschaft und für professionelle Helfer sein, aber selbstverständlich ist es auch eine Aufgabe für Großeltern und Freunde, die man längere Zeit nicht gesehen hat.

Wie bringen wir Kinder dazu, ihre Sorgen aussprechen zu können?

Es sind immer drei Schritte. Das, was Kinder und Jugendliche als Belastung empfunden haben, muss geäußert werden. Das Kind muss durch das offene und ehrliche, das nicht-manipulative Interesse des Gegenübers angeregt werden, sich noch genauer zu erforschen und mitzuteilen, damit es sich noch besser und stärker ausdrücken kann, vielleicht auch non-verbal durch Malen und Musik. Und in der dritten Stufe, wenn die Kinder und Jugendlichen ausgedrückt haben, was sie belastet hat, dann gilt es, die kritischen Ereignisse neu bewerten zu lernen. Dann müssen Kinder und Familien gewissermaßen die Schwierigkeiten integrieren, also mit den Themen umzugehen lernen, dass die Eltern zum Beispiel in der Zeit der starken Ängste und Restriktionen einmal extrem wütend waren oder sie zwischendurch versucht haben, eine ungute Form von Nähe herzustellen, oder dass sie betrunken gewesen sind oder  sie schlecht über Dritte geredet haben, oder dass sie vielleicht Selbstmordgedanken geäußert haben. Abermals: Ich sage nicht, dass das in jeder Familie geschehen ist. Aber vielleicht doch häufiger, als ein jeder spontan bereit wäre, es zuzugeben. Und bis all das geäußert wird, braucht es natürlich eine ganze Zeit. Allein mit dem Öffnen der Schule ist es mit der Aufarbeitung der Erlebnisse der vergangenen Monate nicht getan.

Wer kann helfen, wenn Kinder, Jugendliche und Familien Hilfe brauchen?

Da braucht es professionelle Hilfe, die es auch gibt. Vitos hat zum Beispiel eine Hotline für die nicht-virologischen Anteile der Covid 19-Risikosituation eingerichtet. Auch gibt es eine medizinische Kinderschutzhotline und die ganz wichtige Website „kein-kind-alleine-lassen.de“. Und für die Kinder selbst, wie auch für die Eltern gibt es  Aufklärungsmöglichkeiten etwa durch Kurzvideos mit Titel wie „Bevor es knallt“, „Das Gewitter vorbeiziehen lassen“ oder „Dicke Luft in der Bude“. In den Videos geben Fachleute auf leicht verständliche Weise gute Verhaltenstipps für den Familienalltag unter den Bedingungen von Corona. Solche Hilfen in das Gespräch mit den Kindern einzubeziehen nennt man „blended care“, also eine durchmischte Form der Fürsorge durch die Familie, Freunde, Medien und professionelle Helfer. Es ist wichtig, Kirchen, Vereine und Vertreter der Freizeitpädagogik einzubeziehen, welche die Kinder auf andere Weise erreichen als die Eltern. Wir müssen Möglichkeiten finden, wie Kinder niedrigschwellig zusammenkommen und dann sukzessive lernen können. Es gibt Möglichkeiten der gemeinsamen Aktivitäten, in die sich Eltern einbeziehen lassen etwa durch gemeinsames Kochen oder das Training, wie das Übergewicht aus dem Lockdown wieder abzubauen ist. Es ist wichtig, dass die Eltern mitmachen.

Unter welche Überschrift sollten wir solche Angebote zur Hilfe für Familien stellen?

Das ist Gemeinwohlerziehung oder Kommunitarismus. Der Ort und die Region entwickeln Momente des Austauschs. Das Angebot reicht von ganz lockeren, ganz unverbindlichen Hilfen bis hin zu verbindlichen Übereinkommen, Treffen und Hilfen für Kinder, Jugendliche und Eltern, um eine gute Mischung aus Fordern und Fördern zu bekommen. Ein Beispiel wäre auch eine Elternschule wie Triple P: Das „Positive Parenting Program“. Triple P ist ein auf verhaltenstherapeutischer sowie klinisch-psychologischer Grundlage aufbauendes Erziehungsprogramm. Es wurde an der University of Queensland in den 1980er Jahren entwickelt, um Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu helfen.

Wessen Aufgabe ist es, Hilfe in der Nähe der Menschen zu ermöglichen?

Diese Aufgabe ist bei der Jugendhilfe angesiedelt. Einzubeziehen wären auch die Kirchen sowie Organisationen, die Kinder mit Migrationshintergrund erreichen. Das Ziel sollte es sein, die Hilfsangebote kommunal zu verankern. 

Haben die Familien eine Chance, gestärkt aus der Corona-Krise hervorzugehen?

Ja, aber nicht direkt. Die Verarbeitungsqualität entscheidet darüber, ob man gestärkt oder enttäuscht daraus hervorgeht. Wenn sich zum Beispiel bis dahin stets friedfertige Eltern während des Lockdowns ganz heftig gestritten und ihre Kinder damit zutiefst verunsichert haben, dann sollte die Familie dieses Erlebnis verarbeiten. Dazu braucht es eine sukzessive Verdauung all dessen, was stattgefunden hat, denn es gibt keine Rückkehr zur Normalität, die wir hatten. Wir sind jetzt mit Themen wie Infektiosität und Infektionsschutz für immer konfrontiert. Die Verarbeitung braucht innere und äußere Begleiter, die dazu führen, dass wir die verschiedenen Widersprüche, die wir erleben, ertragen und aushalten. Wir müssen ambivalenzfähig werden. Wir dürfen die Widersprüche weder für unerträglich halten und auf der Suche nach einem Ausweg extrem vereinfachen und im Sinne fundamentalistischer Überlegungen die Wirklichkeit ausblenden, noch dürfen wir uns auf der Suche nach Orientierung in einer Welt voller Ungewissheiten so weit im Detail verlieren, dass wir vor lauter Detailismus gar nichts mehr zu irgendetwas sagen können. Wir müssen lernen, mit und in Widersprüchen zu leben. Es kommt darauf an, Widersprüche und Ungewissheit zu ertragen. Wir müssen es im besten Falle lernen, für uns und andere auch als medizinische Laien in der Pandemie Orientierungslinien für das Leben im Alltag zu entwickeln.

Was kann der Einzelne tun?

Nachdenken, sich informieren, sich austauschen. Von der reinen Klage, über andere und das, was alles schlecht sei, wegzukommen. Stattdessen können wir auch im Kleinen Fürsorge für unser gemeinsames Haus entwickeln - für unsere Familie, die Nachbarschaft, unsere Straße, unsere Stadt, ja für die ganze Welt. Denken wir an die Beschäftigung mit der Natur etwa im Kleingarten, an den achtsamen Umgang mit der Umwelt, an einen kreativen Umgang mit Medien. Wir können fotografieren oder malen, und wir müssen nicht alles gleich posten, sondern wir können auch die Inhalte, die uns medial erreichen und uns verunsichern, gründlich hinterfragen. Wir haben unendliche Möglichkeiten einer Selbstkultivierung. Wir sind eingeladen, uns selbst zu entdecken und andere mit unseren Fähigkeiten zu beschenken.

Hintergrund:

Die Vitos Klinik Rehberg ist eine Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie mit Hauptstandort in Herborn. Sie verfügt insgesamt über 117 Betten, 67 tagesklinische Plätze sowie Ambulanzen in Herborn, Gelnhausen, Hanau, Limburg und Wetzlar. Die Vitos Klinik Rehberg bietet Diagnostik und Therapie in Form ambulanter, tagesklinischer und vollstationärer Behandlungen an. Das Alter der Patienten liegt zwischen der Neugeborenenphase und 18 Jahren. Es werden seelische Erkrankungen aus dem gesamten Spektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie sämtliche Störungsbilder in allen Schweregraden behandelt, bei denen psychische Ursachen oder Folgen im Vordergrund stehen. Indes baut Vitos in Hanau eine neue Klinik. Denn bislang gibt es in der Region kein derartiges Angebot für junge Patienten mit seelischen Erkrankungen. Vitos Herborn hat als gemeinnützige Gesellschaft auch den kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgungsauftrag für die Region Hanau, westlicher Main-Kinzig-Kreis, Offenbach und Kreis Offenbach. Sie betreibt seit vielen Jahren eine kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz und Tagesklinik sowohl in Hanau als auch eine weitere Ambulanz in Gelnhausen. In der neuen Klinik können bis zu 51 Patienten auf drei Stationen behandelt werden. Für den ambulanten und tagesklinischen Bereich sind 20 Plätze vorgesehen. Diese befinden sich derzeit noch an der Geibelstraße und werden nach Fertigstellung der Klinik an den Sophie-Scholl-Platz verlegt. Der Neubau ist hell, freundlich und modern gestaltet. Er setzt sich aus zwei nahezu baugleichen Gebäudeteilen zusammen, die durch einen Übergang verbunden sind. Beide Häuser bekommen einen eigenen Garten. Der Außenbereich wird gemeinsam mit der Schule für Kranke, einer Einrichtung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) für die schulpflichtigen Patienten, genutzt. Diese wird künftig im sanierten und umgebauten Nachbargebäude untergebracht sein. Das Gesamtvolumen für den Neubau auf dem Areal der ehemaligen „Hutier-Kaserne“ beträgt zirka 20 Millionen Euro. Die neue Klinik, in der die Behandlung aller kinder- und jugendpsychiatrisch relevanten Störungsbilder vorgesehen ist, soll voraussichtlich Ende 2020 in Betrieb gehen.

Die Bereitstellung der Fotos erfolgt für Zwecke der Medienberichterstattung. Eine darüber hinausgehende kommerzielle Nutzung, insbesondere für Werbezwecke, ist nicht zulässig. Eine private Nutzung der Bilder ist ausschließlich im Rahmen der Schrankenregelungen des Urheberrechtsgesetzes möglich.

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