Gemeinsamer Weg
Über die Arbeit der begleitenden psychiatrischen Dienste Marburg
Mit 21 Jahren hört Tim die fremden Stimmen das erste Mal: „Du bist es nicht wert, du wirst büßen“, sagt jemand laut und deutlich zu ihm. Als sich der Jura-Student umdreht, ist weit und breit niemand zu sehen. Die Stimmen sind aber in seinem Kopf, sie pochen unaufhörlich hinter den Schläfen und werden lauter und lauter. Tim fühlt sich auch immer häufiger verfolgt. Er glaubt, andere Menschen hätten von ihm Besitz ergriffen und könnten seine Gedanken lesen. Der junge Mann leidet an einer Schizophrenie. Er nimmt Dinge wahr, die es gar nicht gibt. Das eigene Erleben und die Wahrnehmung sind so sehr gestört, dass der Bezug zur Realität verloren geht.
Menschen mit einer Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Psychosen, Suchterkrankungen, begleitet von Essstörungen, depressiven Verstimmungen und Zwangsstörungen: Bernd Donges hat in seinem Berufsleben verschiedenste psychiatrische Erkrankungen kennengelernt und weiß um die große Not der chronisch erkrankten Menschen. „Die meisten Menschen in unserer Einrichtung haben einen langen Leidensweg hinter sich, mit einer Vielzahl von Krankenhausaufenthalten, in immer kürzeren Intervallen“, erzählt der Therapeutische Leiter der Vitos begleitenden psychiatrischen Dienste Marburg.
Als deutlich wurde, dass Tims Erkrankung durch eine ambulante Therapie nicht ausreichend behandelt werden konnte, entschied sich der junge Mann für einen stationären Klinikaufenthalt und nahm im Anschluss die Begleitenden psychiatrischen Dienste in Anspruch. Der 22-Jährige hat dadurch erlernt, seinen Krankheitsverlauf und Symptome frühestmöglich wahrzunehmen, um sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Für Bernd Donges ist das der Idealfall: „Wenn sich der Klient vertrauensvoll an die Mitarbeiter wendet, sobald er feststellt, dass sich in der eigenen Wahrnehmung oder im Denken etwas verändert,
so kann in der Regel am gleichen Tag ein Kontakt mit dem behandelnden Psychiater vereinbart werden. Ziel ist es, stationäre Krankenhausbehandlungen zu vermeiden.“
Dem Krankenhausverbund fühlt sich der Leiter der Vitos begleitenden psychiatrischen Dienste seit rund 40 Jahren eng verbunden. Seinem Fachbereich stehen in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg, die sich auf einem parkähnlichen Gelände befindet, 26 stationäre Plätze und 25 Plätze für Betreutes Wohnen zur Verfügung. Menschen, die chronisch psychisch krank sind, gelingt das selbstständige Wohnen im eigenen häuslichen Umfeld häufig nicht mehr. Auf Grundlage des notwendigen Unterstützungsbedarfs sind eine stationäre Betreuung oder Betreutes Wohnen notwendig. Auch im Betreuten Wohnen wird den Klienten in Krisen Hilfe und Unterstützung an sieben Tagen in der Woche, rund um die Uhr angeboten.
Leben statt leben üben
„Unser Anspruch ist es, gemeinsam mit den Klienten einen individuellen Weg zu finden, damit sie möglichst selbstständig und selbstbestimmt leben können“, so Donges. Die Mitarbeiter bieten Motivation und Anleitung zum selbstständigen Handeln und geben die Unterstützung, die tatsächlich benötigt wird.
Dieser Aspekt ist für die Arbeit in der Einrichtung entscheidend. Oftmals haben Menschen mit chronisch psychischer Erkrankung eine lange Klinik-Odyssee hinter sich und somit wenig Raum für ein selbstbestimmtes Leben gefunden. Je nachdem wie schwer der Mensch erkrankt ist, helfen Pflegemitarbeiter und Therapeuten bei der Strukturierung und Bewältigung des Alltags: Sie unterstützen bei Bedarf in den lebenspraktischen Bereichen, wie zum Beispiel Körperpflege, Kleidung, Ordnung im eigenen Wohnraum, Einkaufen und Kochen und bieten darüber hinaus je nach Interesse des Einzelnen ein vielseitiges Angebot zur Freizeitgestaltung.
"Wir freuen uns auf jede Begegnung"
Da ein Teil der psychisch kranken Menschen keiner regulären Beschäftigung nachgehen kann und wenig belastbar ist, bieten die Mitarbeiter der Vitos begleitenden psychiatrischen Dienste Beschäftigungsangebote im lebenspraktischen und hauswirtschaftlichen Bereich an.
„Für uns ist jeder Mensch anders und wir freuen uns auf jede Begegnung“, unterstreicht der Therapeutische Leiter
das Credo der Einrichtung. Begriffe wie Menschlichkeit, Wertschätzung, Vertrauen und Zuwendung sind für das Team eine Selbstverständlichkeit im täglichen Umgang mit den Menschen. Das gilt auch für das Miteinander unter Kollegen: Das Team besteht aus Pflegemitarbeitern, Sozialpädagogen sowie Ergo- und Physiotherapeuten. Die Mitarbeiter haben eine hohe psychiatrische Kompetenz mit Zusatzqualifikationen, wie Fachkrankenpflege, Hirnleistungstrainer und Motivational Interviewing. Alle begegnen sich auf Augenhöhe. „Ich lege Wert darauf, dass alle Mitarbeiter ein aktives Mitspracherecht haben, mit einem hohen Maß an eigenverantwortlichem Handeln", betont Donges.