Angststörungen
Wenn Angst die Kinderseele belastet
Nora weint bitterlich: „Mein Bauch tut so weh, ich kann nicht in die Schule.“ Ihre Mutter kennt diese Situation nur zu gut. Sobald sie sich von ihrer Tochter entfernt, hat die Siebenjährige Bauchschmerzen und ist völlig außer sich. Nora leidet unter einer emotionalen Störung mit Trennungsangst. Das Kind empfindet eine große Furcht, ihre Eltern nicht wiederzusehen.
In Deutschland sind etwa 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig und haben psychosomatische Beschwerden. Depressionen, Ängste und Essstörungen sowie aggressives oder zwanghaftes Verhalten, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen haben meist unterschiedlichste Ursachen. Aber immer sind sie Ausdruck dafür, dass im Leben des Heranwachsenden etwas aus dem Lot geraten ist.
Dr. Christian Wolf ist seit 20 Jahren Klinikdirektor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg und erlebt immer mehr junge Patienten mit ausgeprägten Angststörungen. „Trennungsängste wie im Fall von Nora betreffen häufig wohlbehütete Kinder, deren Eltern selbst ängstlich und mit ihrem Kind symbiotisch verbunden sind“, sagt der Chefarzt. Bei der kleinen Nora beispielsweise mangelte es an Freiraum für das eigene Tun und Erleben. „Das Mädchen hatte kaum Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und fand sich ohne ihre Eltern nicht zurecht“, so Wolf.
Mit der ganzen Familie auf Ursachenforschung
„Uns ist es wichtig, Vertrauen aufzubauen und gemeinsam mit der Familie nach den Gründen für die Probleme zu suchen“, betont Dr. Wolf. Die vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeuten und Patienten bildet bei der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Marburg die wesentliche Grundlage für den Erfolg der Behandlung. „Jedes einzelne Kind soll sich bei uns verstanden fühlen“, sagt Wolf. Je nach Altersgruppe und Erkrankung werden unterschiedliche Behandlungsangebote gemacht.
Das Angebot auf dem Klinikgelände ist abwechslungsreich: Zur Verfügung stehen beispielsweise ein Spieltherapiezimmer, eine Turnhalle sowie ein Fitnesskeller und ein Entspannungsraum. In 90 Prozent der Fälle suchen die Eltern auf Empfehlungen von Haus- oder Kinderärzten zunächst die Ambulanz der Klinik auf, weil sie nicht weiter wissen. Reicht eine Behandlung in der Ambulanz oder Tagesklinik nicht aus, kann auf insgesamt vier Stationen in der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie stationäre Hilfe in Anspruch genommen werden.
Beobachten Eltern bei ihrem Kind Verhaltensänderungen, sollten sie möglichst zeitnah professionellen Rat suchen, beispielsweise bei anhaltenden Kopf- oder Bauchschmerzen ohne medizinischen Befund, bei sozialem Rückzug und Schulverweigerung, bei Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust sowie bei Aggressivität, Hyperaktivität und fehlender sozialer Anpassung. Bei sehr kleinen Kindern sind hartnäckiges Weinen oder Schreien, Fütter- und Schlafstörungen Alarmsignale.
Belastende Lebensumstände besser bewältigen
Aus Therapeutensicht werden die Rahmenbedingungen für ein gesundes Heranwachsen der Kinder und Jugendlichen immer schwieriger. „Viele Kinder leben bei einem alleinigen Elternteil oder Eltern, die sich selbst überfordert fühlen,“, so Wolf. Kinder werden häufig von komplizierten Patchwork-Situationenheraus gefordert, mit denen sie ohne elterliche Hilfe kaum fertig werden. Verfügen diese Kinder nicht über eine natürliche Widerstandsfähigkeit und haben keine Kompetenz erlernt, belastende Lebensumstände zu bewältigen, kann das schnell zu einer dauerhaften Überforderung und psychischen Störung führen.
In vielen Familien ist das Smartphone zudem ständiger Begleiter. „Das Abtauchen in die digitale Welt ersetzt oft fehlende Kontakte“, so Wolf. „Wir erleben mittlerweile Kinder, die sagen: „Alexa ist meine beste Freundin““, sagt der Experte. Vielen gelingt es dann nicht mehr, sich in Gruppen zurecht zu finden und tragfähige Beziehungen mit Menschen einzugehen.
Angst vor dem eigenen Versagen
Mit Sorge sieht der Klinikdirektor auch die hohen gesellschaftlichen Anforderungen an die Jugend: Immer mehr Schüler haben einen vollen Terminkalender, leiden unter Versagensängsten und können dem Leistungsdruck kaum standhalten. Schulschwänzen und Prüfungsangst sind die häufige Folge. Bei einem Trainingsprogramm lernen die Betroffenen in der Vitos Kinder- und Jugendklinik, mit ihrer Angst besser umzugehen und sich auf ihre eigenen Stärken zu besinnen.