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Dramatische Belegungs- und Kapazitätssituation im Maßregelvollzug

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos gGmbH

Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie stellt drei Forderungen an Gesetzgeber

Kassel, 2. November 2021 – Die BAG Psychiatrie fordert erstens eine bundesweite interdisziplinäre Arbeitsgruppe, um die Überbelegung im Maßregelvollzug (MRV) zu stoppen. Zweitens darf die Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB nicht länger attraktiver sein als ein Aufenthalt im Justizvollzug, wie es derzeit unter bestimmten Bedingungen noch der Fall ist. Die BAG Psychiatrie fordert, die dazu seit Jahren angekündigte Reform zeitnah umzusetzen. Drittens fordert sie eine gesetzlich verpflichtende vollständige Erhebung einheitlicher Kennzahlen für den Maßregelvollzug.

„Die anhaltende und weiter steigende Überbelegung der Maßregelvollzugskliniken belastet Patienten und Mitarbeiter gleichermaßen. Dadurch droht die Behandlungsqualität zu sinken. Und das wird zu höheren Kosten führen“, erklärt der BAG-Psychiatrie-Vorsitzende und Vitos Konzerngeschäftsführer Reinhard Belling.

Hessen

Vitos ist Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Träger Psychiatrischer Krankenhäuser (BAG Psychiatrie). Die BAG sieht bundesweit bei der Belegungs- und Kapazitätssituation aller Maßregelvollzugseinrichtungen dringenden Handlungsbedarf. Den hat die BAG auch an das Hessische Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) herangetragen. In Hessen steigen die Patientenzahlen gemäß § 63 und 64 StGB (Strafgesetzbuch) dramatisch. In Summe müssen die Vitos Kliniken für forensische Psychiatrie seit 2016 rund 200 Patientinnen und Patienten mehr versorgen.

Reform des § 64 StGB

Die BAG Psychiatrie appelliert an den Gesetzgeber, die seit Jahren angekündigte Reform des § 64 StGB zeitnah umzusetzen. Die Zahl der Anordnungen gemäß § 64 StGB hat sich seit 2007 nahezu verdoppelt. In Hessen sind die Patientenzahlen seit Ende 2018 um rund 60 Patienten gestiegen.

Insbesondere der derzeit noch gesetzlich verankerte Fehlanreiz bedarf dringend einer gesetzlichen Korrektur. Die Unterbringung im Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB darf nicht länger attraktiver sein als ein Aufenthalt im Justizvollzug, wie es derzeit unter bestimmten Bedingungen noch der Fall ist.

Fehlanreiz nach Verurteilung nach § 64 StGB

§ 67 Abs. 5 StGB eröffnet für Patienten des Maßregelvollzugs die Möglichkeit einer Entlassung zum Halbstrafentermin. Dies bedeutet, dass Maßregelvollzugspatienten bei guter Prognose erstmals nach Ablauf der Hälfte einer zeitgleich angeordneten Freiheitsstrafe die Möglichkeit haben, die Maßregelvollzugseinrichtung zu verlassen. In diesem Fall werden der Strafrest und die Maßregel zur Bewährung ausgesetzt.

Die Möglichkeit zur Bewährungsaussetzung zum Halbstrafentermin kommt für alle MRV-Patienten in Betracht, und zwar unabhängig von der Dauer der zeitgleich angeordneten Freiheitsstrafe. Diese regelhafte Anknüpfung an den Halbstrafentermin gibt es aber nur für MRV-Patienten.

Strafvollzugsgefangene haben nur bei Freiheitsstrafen, die zwei Jahre nicht übersteigen, die Möglichkeit zum Halbstrafentermin entlassen zu werden. Diese Option haben aber auch nur Personen, die erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßen. Eine Entlassung zum Halbstrafentermin aus dem Strafvollzug ist also nur unter engen Voraussetzungen denkbar (vgl. § 57 Abs. 2 StGB).

Strafgefangene einer Justizvollzugsanstalt (JVA) haben bei Freiheitsstrafen, die höher als zwei Jahre sind, in der Regel erstmals nach zwei Drittel der vollzogenen Strafe (Zwei-Drittel-Termin) die Möglichkeit auf eine Bewährungsaussetzung.

Fazit: Bei Freiheitsstrafen, die zwei Jahre übersteigen (also bei hohen Begleitstrafen) kann eine Bewährungsaussetzung aus dem Maßregelvollzug früher erreicht werden, als aus dem Strafvollzug. Dieser Rabatteffekt im MRV kann bei hohen Begleitstrafen ein Anreiz für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (also einer Klinik für forensische Psychiatrie nach § 64 StGB) sein.

Reform des § 63 StGB

Die 2016 in Kraft getretene Gesetzesreform des § 63 StGB hat nicht zu den vom Gesetzgeber definierten Zielen geführt. Ein wesentliches Ziel war es, den kontinuierlichen Anstieg der nach § 63 StGB untergebrachten Personen zu bremsen oder gar zu senken, der auf die steigende durchschnittliche Unterbringungsdauer zurückgeführt wurde.

Mit der Reform wurden die Anordnungsvoraussetzungen des § 63 StGB erhöht. Die Kriterien für die Fortdauer der Unterbringung im Maßregelvollzug nach 6 und 10 Jahren wurden strenger. Die fortdauernde Unterbringung eines Patienten im Maßregelvollzug wird durch Gutachten engmaschiger auf ihre weitere Notwendigkeit hin überprüft. Die Frequenz für externe Gutachten wurde von fünf auf drei Jahre und für Unterbringungen ab sechs Jahren auf zwei Jahre verkürzt. Dennoch stieg die Belegung in Hessen seit 2016 um insgesamt 140 Patienten an. Aktuell sind in den hessischen Maßregelvollzugskliniken 621 Patienten gemäß § 63 StGB untergebracht. Dies ist ein historischer Patientenhöchststand seit Aufzeichnung der Belegungszahlen.

Diese Tendenz stellt die Maßregelvollzugskliniken bundesweit vor massive Probleme.

Um diesen Trend zu stoppen, fordert die BAG Psychiatrie die Bildung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe. Diese soll geeignete Maßnahmen entwickeln, um der aufgezeigten Entwicklung entgegenzuwirken.

Quantifizierung auf Bundesebene nicht möglich

Eine Quantifizierung auf Bundesebene ist nicht möglich, weil es dazu keine bundesweite Datenlage gibt.

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat fünf Jahre nach Inkrafttreten der Reform des § 63 StGB überprüft, inwieweit die seinerzeit formulierten Ziele erreicht wurden. Aus dessen am 30. Juli 2021 veröffentlichten Bericht wird deutlich, dass die Zahl der Anordnungen des § 63 StGB seit 2018 wieder deutlich steigen. Dieser Trend setzt sich nach Rückmeldungen aus den Bundesländern auch 2020 und 2021 fort.

Die Unterbringungsdauer bei Beendigung der Maßregel gemäß § 63 StGB ist von 2010 (2.700 Tage) bis 2019 (3.697 Tage) deutlich gestiegen. Auch nach der Reform des § 63 StGB 2016 ist sie nicht gesunken, sondern weiter gestiegen: von 3.341 Tagen (2016) auf 3.697 Tage (2019).*

Bundesweit einheitlichen Kennzahlen für den Maßregelvollzug gefordert

Die BAG Psychiatrie fordert eine gesetzlich verpflichtende vollständige Erhebung einheitlicher Kennzahlen für den Maßregelvollzug.

Die länderübergreifende Datenlage zum Maßregelvollzug ist seit Jahren unzureichend. Aktuell erfasst das statistische Bundesamts nur sehr wenige Kennzahlen und berücksichtigt auch nicht alle Bundesländer. Eine bundesweite Datenerhebung existiert nicht. Eine einheitliche und vor allem vollständige Erhebung von Kennzahlen im Maßregelvollzug ist aus Sicht der BAG Psychiatrie unverzichtbar.

Überprüfung der Psychisch-Kranken-Hilfe Gesetze der Bundesländer

Die einstweiligen Unterbringungen gemäß 126a StPO sind zwischen 2010 und 2019 um 70 Prozent gestiegen.*

Der Anteil derer, die nach Ablauf der vorläufigen Unterbringung nicht zu einer Maßregel verurteilt wird, scheint zu steigen. Möglicherweise hängt dieser Trend auch mit den Veränderungen der Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetze der Länder zusammen, in denen oftmals die Hürden für eine allgemein-psychiatrische Unterbringung erhöht wurden. Dies könnte Auswirkungen auf die Anzahl der vorläufigen Unterbringungen im Maßregelvollzug nach 126a StPO haben. Die BAG Psychiatrie regt daher an, innerhalb der interdisziplinären Arbeitsgruppe unter anderem die Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetze auf der Ebene der Bundesländer dahingehend zu überprüfen.

Schwierige Fachkräftegewinnung

Um neue Maßregelvollzugskapazitäten zu schaffen, braucht es in der Regel einen längeren zeitlichen Vorlauf. Vor allem muss zur Inbetriebnahme neuer Einrichtungen qualifiziertes Personal für die Arbeit im Maßregelvollzug gewonnen werden. Dies ist wegen des anhaltenden und zunehmenden Fachkräftemangels für alle Kliniken eine große Herausforderung.

HintergrundÜber Vitos

Die Kernaufgabe von Vitos ist die Diagnostik und Behandlung von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen, psychosomatischen und forensisch-psychiatrischen Kliniken. Mit 3.700 Betten/Plätzen ist das Unternehmen in Hessen größter Anbieter für die ambulante, teil- und vollstationäre Behandlung psychisch kranker Menschen.

In den Fachkliniken für Neurologie und Orthopädie behandelt Vitos 47.200 Patient/-innen ambulant und stationär. Für Menschen mit geistiger bzw. seelischer Behinderung, für die psychiatrische Reha und in der Jugendhilfe bietet Vitos 2.500 Plätze.

10.000 Mitarbeiter/-innen erwirtschaften an 114 Standorten in 75 Orten einen jährlichen Gesamtertrag von 700 Mio. Euro. Sie behandeln insgesamt 43.000 Patient/-innen stationär/teilstationär und 175.000 ambulant.

Vitos, das sind in Hessen 20 verbundene Unternehmen, davon 16 gemeinnützig. Sitz der Unternehmenszentrale ist Kassel. Alleingesellschafter ist der Landeswohlfahrtsverband Hessen.

(*Quelle: Kerndatensatz für den Maßregelvollzug, beauftragt von allen Gesundheits- und Sozialministerien der Bundesländer, aber ohne Bayern und Baden-Württemberg, aus dem wir zitieren dürfen)

 

 

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