„In die Zeit des Nationalsozialismus fällt das dunkelste Kapitel der Psychiatrie. Das Leid und Unrecht der betroffenen Menschen können wir nicht ungeschehen machen. Aber wir können die Stigmatisierung und Ausgrenzung psychisch Kranker kämpfen – im steten Gedenken an die Opfer, die bei der heutigen Veranstaltung im Mittelpunkt stehen“, sagt Ralf Schulz, Geschäftsführer von Vitos Südhessen, während seiner Begrüßungsrede im Rahmen der Gedenkfeier.
Mindestens 200.000 psychisch Kranke und behinderte Menschen fielen dem sogenannten Euthanasieprogramm zum Opfer. 596 davon wurden zwischen den Jahren 1934 und 1945 aus dem „Philippshospital Goddelau“ abtransportiert und ermordet. Vitos Südhessen veranstaltet am Standort Riedstadt seit vielen Jahren eine Gedenkfeier anlässlich des ersten September. Auch in diesem Jahr beteiligten sich wieder Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Gernsheim aktiv am Programm und sorgten für eine musikalische Untermalung. Zudem unterstütze der Sozialpsychiatrische Verein Kreis Groß-Gerau e. V. bei der Veranstaltung.
Am Gedenkstein auf dem Riedstädter Gelände wurden gemeinsam 30 Namen von Betroffenen verlesen und Rosen niedergelegt. Der Gedenkstein sowie die Tradition der Gedenkfeier tragen zur Vergegenwärtigung der Opfer bei und machen das Erinnern greifbarer. Gerade der jüngeren Generation ist damit ein Anlass geboten, sich aktiv mit der Vergangenheit Deutschlands auseinanderzusetzen. „Ich sehe es in unserer Verantwortung, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht in Vergessenheit gerät. Das, was passiert ist, muss uns eine mahnende Erinnerung bleiben, damit wir den uns anvertrauten Menschen stets wertschätzend gegenübertreten“, so Ralf Schulz.
Bild Gedenkfeier Vitos Südhessen 1
Bild Gedenkfeier Vitos Südhessen 2
Hintergrundinformationen
Warum erster September?
Auf den ersten September 1939 datierte Hitler sein – wohl erst im Oktober des gleichen Jahres verfasstes – Schreiben an seinen Begleitarzt und den Leiter der „Kanzlei des Führers“, in dem er die dazu willigen Ärzte ermächtigte, Menschen zu töten, die nach den Vorstellungen der Nationalsozialisten „Ballastexistenzen“ darstellten. Es handelte sich um Menschen mit einer geistigen oder schwerwiegenden körperlichen Behinderung, um Menschen, die psychisch krank waren, aber auch um Menschen, die nicht in das Bild der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ passten: etwa Obdachlose oder „schwer Erziehbare“.
Durch die Datierung entsteht ein Zusammenhang zwischen dem mit dem Überfall auf Polen begonnenen Krieg nach außen und dem „Krieg nach innen“, gerichtet gegen alle, die dem „gesunden Volkskörper“ nicht entsprachen. Der Brief ist auch unter dem Begriff „Euthanasie-Erlass“ bekannt. Das ist irreführend, denn es gab nie eine offizielle gesetzgeberische Legitimierung des Krankenmordes, wohl aber eine funktionierende Verwaltung, die zunächst die Ermordung von in Heimen oder psychiatrischen Krankenhäusern (Heilanstalten) untergebrachten Menschen zentral von Berlin aus organisierte, unterstützt von Ärzten, Pflegern und den Verwaltungsbeamten der jeweiligen „Anstalten“.
Die historische Forschung nannte diese erste Phase des Krankenmordes nach deren Berliner Adresse in der Tiergartenstraße 4 später „Aktion T-4“. Heute erinnert dort eine Informations- und Gedenkstätte an die rund 600.000 Opfer. Man geht von rund 200.000 ermordeten Menschen aus, etwa 400.000 wurden seit 1934 zwangssterilisiert. (Quelle: statista.com, veröffentlicht am 8.4.2020)
Wortlaut des Schreibens
Berlin, 1. Sept. 1939
Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.
Adolf Hitler
Die Organisation des Mordens
Die erste Mordphase (Januar 1940 bis August 1941) wird auch zentrale Euthanasie genannt, weil die Ermordung der Patienten und Bewohner, die aufgrund von Meldebögen aus den damaligen Heimen und Heilanstalten als nicht lebenswert eingestuft worden waren, in sechs zentralen Gasmordanstalten stattfand. Als eine dieser Gasmordanstalten fungierte die Heilanstalt Hadamar. Dort hat heute die zentrale hessische Gedenkstätte ihren Sitz, die der Landeswohlfahrtsverband Hessen betreibt. Die Mordopfer wurden in den „grauen Bussen“ oft über eine Zwischenstation in eine nahe gelegene Heilanstalt in die Gasmordanstalten gebracht.
Im August 1941 beendeten die Nationalsozialisten auf öffentlichen Druck insbesondere durch Vertreter der katholischen Kirche die zentrale Mordaktion. Doch das Morden ging weiter: es fand jetzt nicht mehr an zentralen Orten statt, sondern vor Ort in den jeweiligen Heimen oder psychiatrischen Heilanstalten. In Hessen waren insbesondere vier der heute zu Vitos gehörenden psychiatrischen Zentren dezentrale Mordorte: die Landesheilanstalten Eichberg bei Eltville (heute Vitos Rheingau), Hadamar und Weilmünster (heute Vitos Weil-Lahn) sowie die Heil- und Erziehungsanstalt Kalmenhof in Idstein (heute Vitos Teilhabe). Auch Kinder und Jugendliche wurden Mordopfer des nationalsozialistischen Regimes: Insgesamt geht man von etwa 25.000 getöteten Minderjährigen aus, rund 5.000 davon wurden in sogenannten Kinderfachabteilungen – speziellen Stationen innerhalb psychiatrischer Heilanstalten – getötet.