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Theatrie: Rückblick auf vier Tage Kulturfestival von und mit Psychiatrie-Erfahrenen bei Vitos Rheingau

Datum:
Fachbereich:
Fachbereichsübergreifend
Gesellschaft:
Vitos Rheingau gGmbH

Verkehrs-Schulung auf dem Mai-Flohmarkt, Drama Queens auf der KUZ-Bühne, Martin Kolbe zurück im Musikgeschäft, Leuchtendes Neon im Schwarzlicht-Theater: bei Vitos Rheingau gab es vom 29. April bis zum 3. Mai verschiedenste Kulturereignisse zu erleben. Sie alle wurden von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung dargeboten. Vitos Rheingau hatte sie im Rahmen des Jubiläums „200 Jahre Psychiatrie im Rheingau“ zur Vorstellung gebeten.

Anfang und Ende machte die Theatergruppe „Anonyme Artgenossen“ (oder doch eher Artgenossinnen, von der Regisseurin bis zur Bühnentechnik bestritten Frauen die Darbietung). Ihr Stück handelt von der Auseinandersetzung der Darstellerinnen mit ihren Lieblingsfilmheldinnen: Scarlett O`Hara aus ‚Vom Winde verweht‘, Ada aus ‚Das Piano‘, Nell aus ‚Nell‘. Die Schauspielerinnen agieren aus - jede ein überzeugende Drama Queen -, was sie an diesen Frauen wahrnehmen, womit sie sich identifizieren können – aber auch, was sie ablehnen oder hinter sich lassen wollen. Beeindruckend war, wie flexibel die drei Akteurinnen mit dem kurzfristigen Ausfall ihrer vierten Mitspielerin umgingen, den sie scheinbar spontan in die Rahmenhandlung integrierten und deren Part – die Rolle der Maggie aus Irina Palm – sie übernahmen, ohne ihn sich überzustülpen. Die Gruppe unter der Regie der Theatertherapeutin Stefanie Fiedler von Vitos Rheingau erhielt für ihre beiden Vorstellungen verdient anhaltenden Applaus.

An beiden Abenden gab es im Vorprogramm jeweils ein weiteres Highlight: so spielte am Eröffnungsabend die erst vor vier Monaten gegründete KUZ-Combo und machte deutlich, wie schnell mit musikalischer Begabung, Übung und einem inspirierenden Bandleader (ehrenamtlich tätig: Klaus „Molo“ Ardeljan) ein hörenswertes Programm entstehen kann – die Gruppe probt seit Januar bei Vitos Rheingau. Der Abschlussabend von Theatrie zeigte im Vorprogramm das Schwarzlichttheater Haina: Vor der Auseinandersetzung der Drama Queens mit Frauenrollen und Weiblichkeitsmodellen eine sinnenfreudige Schwelgerei in Neonfarben, tänzerisch in Szene gesetzt zu verschiedensten Musikstücken. Die vielleicht eindrucksvollste Szene zeigte eine neonfarbige „Wall“ und ihren Einsturz zu den gleichnamigen Klängen von Pink Floyd.

Für Martin-Kolbe-Fans bot der zweite Theatrie-Abend im KUZ Eichberg ein lange erhofftes Wiederhören mit einem der profiliertesten Gitarristen der 70er und 80er Jahre. Martin Kolbe musste seine musikalische Karriere für viele Jahre unterbrechen – die Diagnose bipolare Störung erforderte eine radikale Umgestaltung seiner Lebensplanung. Die „Songs from the Inside“, die er auf der KUZ-Bühne vortrug, begleitet von Peter Autschbach, handeln von den Ein- und Umbrüchen durch die Krankheit, von den Erfahrungen auf einer geschlossenen Psychiatriestation, von den Verlusten, aber auch von schmerzhaft errungenen Gewinnen.

Vor der Musik ein Text: Janine Berg-Peer las aus ihrem Erfahrungsbericht „Schizophrenie ist Scheiße, Mama“ – und man konnte hören und spüren, wie sehr eine psychische Erkrankung nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen an Grenzen bringt, von denen sie vorher nicht einmal wussten, dass es sie geben könnte. Berg-Peer hat ihre eigene Erfahrung mit der Psychiatrie gemacht – und beschreibt sie eindringlich, kritisch gegenüber der Psychiatrie, aber auch konstruktiv und dialogbereit. Ihr Buch ist – auch – als Aufforderung an die Psychiatrie zu verstehen, die Angehörigen zu hören, ernst zu nehmen und zu unterstützen. Ein Appell, der in Teilen bereits angekommen ist, sind doch etliche der dort geschilderten Erfahrungen in der ersten Hälfte der 90er Jahre gemacht worden.

Eine nochmals andere, eigenwillige Note gaben die „Süßen Frauen“ dem Theatrie-Festival durch ihre Präsenz auf dem traditionellen Mai-Flohmarkt am Freitag auf dem Gelände rund um die alte Gärtnerei von Vitos Rheingau. Als schrille Politessen mit roten Perücken und blauen Uniformen mischten sie sich mit improvisiertem Theater unter die wie immer zahlreichen Besucher des Flohmarkts, verwickelten sie in Gespräche, dirigierten einen spontan zusammengestellten Chor oder forderten zum Hula-Hoop auf. Letzteres mit gemischtem Erfolg: „Ganz Eltville hat Rücken“ kommentierte die zuständige Politesse die am häufigsten zu hörende Ausrede. Auch die Verkehrsregel-Kenntnisse der Flohmarktbesucher wurden überprüft – zur Gaudi der Umstehenden, an denen der Kelch vorbeigegangen war.

Die „Süßen Frauen“ sind eine Impro-Theater-Gruppe des weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannten Blaumeier-Ateliers Bremen, das seit den 90er Jahren eine Kunstwerkstatt verschiedenster kreativer Metiers für Menschen mit und ohne Psychiatrieerfahrung bietet.

Der Geschäftsführer von Vitos Rheingau, Stephan Köhler, bewertet das Festival im Rahmen des 200-jährigen Jubiläums als Erfolg: „Unsere Geschichte verpflichtet uns genauso wie unsere gegenwärtige gesellschaftliche Verantwortung als Träger mehrerer psychiatrischer Kliniken und gemeindepsychiatrischer Angebote, eine Lobby für unsere Patienten und Klienten zu sein. Es ist unser erklärtes Ziel, gegen Klischeevorstellungen und Vorurteile über das, was psychisch krank angeblich ist, anzukämpfen. Dabei unterstützen uns natürlich die Psychiatrie-Erfahrenen selbst am besten. Ihnen wollten wir mit „Theatrie“ einen (Bühnen)Raum geben. Ich finde, was wir in den letzten fünf Tagen sehen und erleben konnten, zeigt, was trotz und mit psychischen Erkrankungen möglich ist. Und genau das wollten wir zeigen.“

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